Fadenscheinig. Natalia Urnia und zehn weitere Frauen stellen in Berlin aus: „Expanded – 11 Female Artists“

Ein Werk von Natalia Urnia in "Expanded - 11 Female Artists from Chile to Berlin" am Kottbusser Damm 95. © BU/Foto: Andreas Hagemoser, 2017

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Der fünfmal gefaltete blaue Flyer im fast quadratischen Format 14 x 14,7 cm ist auf englisch gehalten. Die erste Muttersprache der Künstlerinnen ist spanisch, wie der Untertitel verrät: „11 female Artists vom Chile to Berlin“. Ausgeklappt ergeben sich so 12 Felder. Eines für das Deckblatt und jede Künstlerin. Isidora Villarino hat das Glück, ganz unten rechts zu erscheinen. Sie ist die letzte im Alphabet, doch das ist nicht der Grund. Der Graphiker hat sie dort plaziert und je nachdem, wie herum das Faltblatt liegt, ist sie ganz obenauf und wird gesehen. Ihr Projekt: „I did not See You ProYect“ (sic). Manchmal ist die letzte die erste.

Mehr als nett – BBENNETT

Meine Favoritin war auf Anhieb die erste im Alphabat, mangels Familiennamen mit „A“ Bernadita Bennett. Sie hat zwei Augen und auch sonst seit der Geburt mit Dualismen zu tun. Ihr „Given Name“ bildet die Initialen B.B. und die von ihr gewählte Website wirkt einerseits ganz normal – der Vorname ist abgekürzt – beim genaueren Hinsehen bemerken wir jedoch fast eine MAOAM-Achsensymmetrie in bbennett.org und stellen obendrein verwundert fest, dass die 4 vertretenen Buchstaben alle doppelt vorkommen.

1, 2, 3

Bennetts Beitrag stammt aus der Serie „Unblind“ und ist ein „1/5 Fine Art Print“. Der Einäugige ist unter den Blinden König, doch richtig unblind ist nur der Zweiäugige, kann er doch die drei Dimensionen des 3D erfassen.

Das Augen-Paar

Was wir von der BB kennen, können wir Zweisamkeit nennen. (Nennen, ein schönes achsensymmetrisches Wort mit durch 2 teilbarer Buchstabenanzahl.) Sie sieht nicht doppelt, sondern hin. Bei ihr haben sogar die Häuser 2 Augen. Und, menschlich wie alte Häuser nunmal sind, bestehen bei aller Achsensymmetrie kleine Unterschiede der Gesichtshälften. Auf der einen Seite blättert mehr Putz ab, das leichte Lächeln ist erkennbar. Ohne Phantasie hat man in einer Kunstaustellung nichts verloren.
Auch die Augen sind nicht am Fließband hergestellt. Am Giebel des Satteldachhauses ohne Überstand blicken sie nach links, da die Scheibe des linken Fensters in der unteren linken Ecke zerbrach, die des rechten etwas rechts. Ob das rechte Fenster geöffnet ist oder die Scheibe des linken Flügels ganz fehlt, bleibt offen.
In der Ausstellung sucht man dieses Photo vergeblich, findet aber zwei entfernt ähnliche. Der Führer durch die Ausstellung bemerkt erst beim zweiten Hinsehen, dass das Bild aus der Ankündigung nicht mit dem an der Wand übereinstimmt.

Porzellanscherben geheilt

Böse Zungen, die Frauen zu den und in die drei „K“ schicken wollen – Küche, Kirche, Kinder – bemerken vieles aus dem Haushalt.
Maria Ossandon zeichnet zerschlagenes Porzellan weiter (mariaossandon.com). Blauweiß wie der Flyer, als sei das verabredet. Blau-weiß trägt der Bayer, der Finne und der Grieche, doch wer denkt, das Somos griechisch sei, ist wie unser Führer auf dem Holzweg. Auch SOMOS ist achsensymmetrisch, Samos nicht. Unser Guide ist Italiener und spricht außer seiner Muttersprache englisch. Dem Besucher glaubt er nicht, dass „somos“ spanisch sei und „Wir sind“ bedeutet.
„Somos Art“ ergibt Sinn. Wir sind Kunst; vor Beuys, seit BEUYS, nach Beuys. Unser Italiener befragt Gott Google und erfährt außer Segen, dass der Ausstellungsbesucher recht hat.
Beflissen befragt er den Eigentümer noch, warum das hintere SomoS-S großgeschrieben ist. Ergebnis: Eine graphische Spielerei. Kunst eben.
Hier hätte auch ein großes „M“ Sinn haben können, um eine andere Symmetrie zu erzeugen: SoMoS.

Textilien und Fäden, die keine sind

Stoffe gibt es nicht nur in der Küche. Hier in der Ausstellung werden sie anscheinend überwiegend verwendet.

Dominique Schwarzhaupt zeigt „1995“ – „Colored pencil and threads on paper“ (Buntstift und Fäden auf Papier).

Constanza Ragal malt Öl auf Leinwand, doch die Vögel rund um das Selbstporträt scheinen einen Wandbehang zu bilden. Gobelin?

Colomba Fontaine verwendet für ihre kleinformatigen, unbenannten Werke Wachs, Acryl und Emaille auf Bronze. Scheinbar sieht man Fäden.

Natalia Urnia dekonsturiert Gewebe so, dass man viele Fäden wirklich sehen kann. Sie ist vielleicht die einzige, die das Motto EXPANDED wörtlich nimmt und abbildet. Ein Schal (?) wird entzerrt und 1,80 Meter lang. Er bildet dabei dekorative Formen.

Zwei Kleidungsstücke hängen im Saal, beide sind nutzlos.
Eines, von Jacinta Besa, heißt „Useless 1“, „Blouse with melted Plasticine“. Das andere ist von Natalia Urnia und taugt höchstens für heiße Tage wie diese oder die Disco.

Luisa Granifo nimmt Baumwolle und Samt, blauen Samt. „Diptych Cotton and Blue Velvet“ ist in der Ecke schlecht gehängt, denn die Effekte, die verschiedene Blickwinkel auf die Stoffoberfläche bringen, kommen dort kaum zur Geltung. (Oil Painting, Cotton and Velvet on Canvas. – Öl, Baumwolle und Samt auf Leinwand)

Somos Art(s) – Wir sind Kunst

Das Erleben der Kunst in seinem Ausstellungsort kann speziell sein. Das „Somos Art House“ – auch auf englisch; Somos-Kunsthaus – ist keine gewöhnliche Galerie. Das liegt schon daran, dass es sich nicht im Erdgeschoss befindet, wo die Mieten höher sind, zudem am belebten Kottbusser Damm.

Wie ist es so am Kottbusser Damm?

Vom Kottbusser Tor kommend führt die Kottbusser Straße nach Süden (Richtung Cottbus). Hinter der Kottbusser Brücke über den Landwehrkanal lag die Straße schon außerhalb und heißt deswegen Damm. Dieser führt bis zum Hermannplatz mit dem potentiell größten Kaufhaus (35.000 Quadratmeter, soviel konnte Karstadt gar nicht nutzen, eine Etage stand leer.) Eingekauft wird hier und an der Sonnenallee noch immer gern. Geschäft liegt neben Geschäft und wird mal von einem Café unterbrochen. Doch hat der Mensch heute wie vor 100 Jahren ein Bedürfnis nach Kultur: Das älteste Kinos Deutschlands liegt einen Block vor dem Hermannplatz auf der rechten Seite an der Ecke Boppstraße und Hohenstaufenplatz – das Moviemento.

Ein außergewöhnlicher Galeriebesuch

U8 Schönleinstraße soll man aussteigen und tut das auch brav. Nicht fett gedruckt der Hinweis „1st Floor“. Die Tür verschlossen, beherzt klingelt man. Durch ein verwinkeltes Treppenhaus mit einem Vorkriegsfahrstuhl aus der Zeit, als es Deutschland noch gut ging (vor 1914), in den 1. Stock. Ein Künstler erwartet einen. Heute sei geschlossen. Sitzung der Artist-in residence-Künstler.
Gleichzeitig mit der Vernissage am 8.6. starteten mehrere Kinofilme, „Ein Kuss von Béatrice“, „The Dinner“, Whitney Houstons „Can I be me?“ und noch ein Musikfilm, „Born to be Blue“ mit Ethan Hawke als Trompeter Chet Baker. Eine blaue Woche? (können Wochen auch blau machen?) So war bis einschließlich Samstag keine Zeit für Kunst.
Sonntag und Montag: geschlossen. Also Dienstag, aber nun nicht geöffnet? Der Besucher besteht auf Einlass. Nachfragen, ein anderer Flyer. Der Chef gibt sein Placet, es sei trotz Meetings geöffnet. Der italienische Künstler entschuldigt sich, er habe es mit der anderen Veranstaltung verwechselt. Ähnlich wie in der DDR mit Bewacher ging es nun durch die Exhibition, in der Englischkenntnisse sehr nützlich sind.

Es lohnte sich trotzdem und ist überschaubar.
Noch bis zum 16. Juni 2017 14-19 Uhr in 10967 Berlin-Kreuzberg, Kottbusser Damm 95. Somos-Art-House.
Kuratiert von Jacinta Besa.

Mehr über Natalia Urnia:

Mainstream umgarnt. Lateinamerika in der Linienstraße 130: Erste Ausstellung „Raue Strömung“ mit Natalia Urnía

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