Fremde, die uns nahe stehn – Unter dem Motto „Willkommen in unserer Mitte“ gestalteten die Musiker der Staatskapelle, des Konzerthauses und die Berliner Philharmoniker ein Sonderkonzert für Flüchtlinge

Musiker der Staatskapelle Berlin und Publikum. © Monika Rittershaus, Ort und Datum der Aufnahme: Berlin, 1.3.2016

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Wer den Weg zurückgelegt hat, den sie hinter sich haben, der betritt entschlossen auch das unkoventionell konstruierte, goldglänzende Gebäude der Berliner Philharmonie. Es sind vorwiegend junge Burschen, aber auch ältere Männer, ganze Familien und einzelne Frauen mit Kindern. Offensichtlich, dass sie aus unterschiedlichen Weltgegenden kommen. Später werden wir erfahren, dass mehr als 20 Nationen vertreten sind. Jetzt spazieren sie in kleineren Gruppen durch das verwinkelte Foyer, jede angeführt von einem sprachgewaltigen Betreuer oder zwei, die mit ihnen umgehen wie mit eigenen Angehörigen. Vor den bunten Glasfenstern werden Fotos gemacht. Überall werden Programmheft gereicht, die auch in englischer und arabischer Sprache einstimmen wollen auf ein für die meisten von ihnen einzigartiges Erlebnis. Über die labyrinthischen Treppenaufgänge steigen die Gäste in den Großen Saal. Und pünktlich zum geplanten Konzertbeginn haben sie alle ihren Platz gefunden.

»Willkommen in unserer Mitte« – unter diesem Motto hatten die Berliner Philharmoniker, das Konzerthausorchester Berlin und die Staatskapelle Berlin Flüchtlinge, ihre Familien sowie Helferinnen und Helfer am Dienstag zu einem Konzert in die Philharmonie eingeladen. »Musik ist unsere internationale Sprache, die die Menschen überall erreicht und berührt. Als Musiker fühlen wir uns auf der ganzen Welt willkommen. Wir wünschen uns, dass dies auch für Menschen gilt, die vom Schicksal schwer getroffen sind und die durch Krieg, Hunger oder Verfolgung gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen. Die Musiker der Orchester und ihre Chefdirigenten Daniel Barenboim, Iván Fischer und Sir Simon Rattle möchten mit ihrem gemeinsamen Konzert den geflüchteten Familien ein Zeichen des Willkommens geben sowie ihren Helferinnen und Helfern gegenüber unseren Dank und unsere Anerkennung zum Ausdruck bringen.« Intendant Martin Hoffmann begrüßte das außergewöhnliche Publikum, das sich temperamentvoll – besonders auch für die Übersetzungen ins Arabische und Farsi – bedankte. Dank gesagt wurde auch der Schirmherrin Angela Merkel, die jedoch die Gelegenheit zu weiteren Selfies nicht genutzt hatte; damit lässt sich in den gegenwärtigen innerparteilichen Kämpfen vor den Landtagswahlen nicht punkten.

Großes Lob gebührt den Organisatoren des Abends. Zwei Monate hatten sie gebraucht – eine für das Vorhaben und das schließlich Geleistete erstaunlich kurze Zeit – die Termine der beteiligen Musiker abzustimmen, die ehrenamtlichen Mitarbeiter aller drei Häuser für die Rund-um-Betreuung der Gäste zu gewinnen, die gebotene Sicherheit zu gewährleisten sowie sowie die Transportprobleme zu lösen. Waren die Einladungen doch mit Hilfe ungezählter Initiativgruppen und Helfer auch in den Füchtlingsunterkünften im Berliner Umland, von Cottbus bis Fürstenberg an der Havel, verteilt worden. Vorstellbar, dass die Männer und Frauen gern zugegriffen haben. Es war eine Möglichkeit, wenigstens für ein paar Stunden die neuen, gänzlich unerwarteten Ängste, Strapazen und Schikanen, die Probleme mit dem Bleiberecht, der Familienzusammenführung, der Sprache, der Wohnungs- und Arbeitssuche zu vergessen – in eine tatsächlich bessere Welt zu fliehen. Viele haben qualifizierte Berufe: Lehrer, Ärzte, Ingenieure. Sie lernen intensiv Deutsch, um wieder im Beruf arbeiten zu können. Einige haben bereits einen Aufenthalt für drei Jahre, haben eine Wohnung oder wohnen zur Untermiete bei deutschen Familien. Die Sorge ist, einen Arbeitsplatz zu finden.

Im Moment galt die Aufmerksamkeit aller dem Geschehen auf der Bühne, den Musikern, der Musik. Jede Satzpause wurde mit heftigem Klatschen und anerkennenden Pfiffen gefüllt. Daniel Barenboim spielte und dirigierte das Klavierkonzert Nr. 20 von Wolfgang Amadeus Mozart. Iván Fischer und das Konzerthausorchester steigerten die Stimmung mit der Symphonie classique von Sergej Prokowjew. Sir Simon Rattle beschränkte sich weise auf den 2. und 4. Satz aus Beethovens 7. Symphonie. Nach jedem Stück erhob sich das gesamte Publikum. Die Beifallsstürme beeindruckten die erfolgsverwöhnten Musiker und die drei Stardirigenten, die sich gemeinsam verabschiedeten, sichtlich.

Die gelöste Stimmung war auch nach dem Konzert im Foyer zu spüren, wo für alle, die gekommen waren, Getränke und ein kleiner Imbiss gereicht wurden. Der Abend hat zweifelsohne ein Zeichen gesetzt. Für die Flüchtlinge, für die, die sich um sie sorgen und für viele denkende Menschen.

Vergessen werden soll aber auch nicht, dass »in unserer Mitte« auch Menschen leben, die brennen und sogar schießen wollen, und Politiker, die zwar »schockiert und betroffen« sind, aber Obergrenzen fordern und »Sonderlager« – die gab es in Deutschland schon einmal. Dagegen ist mit Musik allein nicht anzukommen. Und um nochmal auf das Motto des Abends zurückzukommen: Zehntausende gelangen gar nicht erst in unsere Mitte, sondern werden in »besonderen Aufnahmeeinrichtungen« abgefangen, überprüft und abgeschoben. In unserer Mitte hieße: im Wohnhaus, in der Kita, in der Schule, in Lohn und Brot.
Auf die letzte Seite des Programmhefts zu ihrem Willkommenskonzert haben die Philharmoniker einen Vers aus dem 5. Buch Mose gestellt: Du sollst einen fremden Untertan, der vor seinem Herrn bei dir Schutz sucht, seinem Herrn nicht ausliefern. Bei dir soll er wohnen dürfen, in deiner Mitte.

Amen.

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