Gute Erinnerung – Vor einem Jahr kam Neill Blomkamps „Chappie“ (USA, Mexiko) ins Kino

© Sony Pictures

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Nach „Chappie“ fragt man sich: Was macht uns aus? Verliert jemand einen Arm, ein Bein, einen Zahn, dann gibt es dafür Prothesen. Oder auch nicht, wie bei Basmeh Soleiman, der jungen Debutregisseurin des „Generation“-Dokumentarfilms „Life At the Border“ der jüngsten Berlinale. Acht Kinder und Jugendliche erhalten nach kurzer Einführung eine Videokamara und berichten aus den Flüchtlingslagern Kobane (Ayn al-arab) und Shingal an der syrisch-türkischen Grenze. Das junge kurdische Mädchen baut einhändig das Stativ auf und steht sehr selbstbewusst vor der Kamera. Schon bevor sie nach einem Überfall auf ihren Heimatort fliehen musste und ihre Familie zerrissen wurde, riss eine Landmine ihre linke Hand ab. Trotzdem gibt sie sich kämpferisch, fordert andere auf, von dem durch Daesh bzw. ISIS erlebten Leid zu berichten; ist sie ein ganzer Mensch.

Wenn jemand „ich“ sagt und dabei in den Spiegel guckt, kann das nicht die ganze Wahrheit sein, denn selbst nach dem Verlust ganzer Körperteile bleibt immer noch der Kern, der berichten kann: „Ich habe damals im Krieg diese Hand verloren“. Was ist es dann?

In „Chappie“ wird das ansatzweise durchgespielt.

Um den Film, besonders gegen Ende, verfolgen zu können, muss man sich vorstellen, dass der Geist eines Menschens oder Wesens von einem physischen Objekt ins andere übertragen wird. Das ist nicht unbedingt neu und wurde, wenn auch anders, im Kassenschlager „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ des kanadischen Regisseurs und Oscar-Preisträgers James Cameron thematisiert. Religionen aus allen Ecken der Welt äußern sich auch dazu; Filmdienste, die konfessionell beeinflusst sind, hatten auch prompt an „Chappie“ etwas auszusetzen.

„District 9“

Neill Blomkamps erster Film „District 9“ brachte frischen Wind in die weltweite Kinolandschaft. Der immer noch recht junge kanadische Regisseur aus Vancouver mit südafrikanischen Wurzeln bewies, dass Science-Fiction auch funktioniert, wenn sie in Südafrika spielt und neben englisch auch afrikaans gesprochen wird. Die Universen, die er erschafft, brechen mit einigen Denk- und Sehgewohnheiten, die durch die große Macht kalifornischer Studios zur Landplage geworden sind. So ähnlich wie ein Computer zu viel mehr in der Lage ist als die vorherrschend verkaufte Software und Betriebssysteme nahelegen, ist unser Geist zu viel mehr in der Lage, als sich auf die wenigen Schmalspurwelten einzustellen, die mit gängigen Filmen immer wieder reproduziert werden.

Der zweite Streich nach „District 9“: ELYSIUM – oder: Wozu die Mauer zwischen den USA und Mexiko, die Trump bauen will, die es aber schon seit Jahren gab, gut ist

Auf ‚Bezirk Neun‘ folgte „Elysium“, eine Luxuswelt an Bord eines von der Erde aus sichtbaren ringförmigen Großraumschiffs mit künstlicher Gravitation, das über einem verelendeten Planeten schwebt. Die Inspiration zu dieser Geschichte hatte Blomkamp, nachdem aus einem Ausflug mit einem Kumpel nach Tijuana in Mexiko ein unfreiwilliger nächtlicher Spaziergang durch die Armenviertel direkt an der flutlichtbeleuchteten, von Hubschraubern überwachten US-Grenzmauer wurde. Wenn jetzt im US-Wahlkampf behauptet wird, dass man dort eine Mauer bauen müsse, ist das nur die halbe Wahrheit: Die Mauer gibt es längst. Die Mauer in den Köpfen sowieso.

Aller guten Dinge sind drei: Der Film „Chappie“

Auch Blomkamps dritter Spielfilm „Chappie“ ist in naher Zukunft spielende Science-Fiction. Benannt nach der von Sharlto Copley gespielten Hauptfigur, einem mit Polizeiaufgaben betrauten Roboter, der im Laufe der Geschichte abweicht und ein eigenes Bewusstsein entwickelt. Copley war bisher in Blomkamps Hattrick – alle drei Filme waren finanziell erfolgreich – immer dabei. Dagegen könnte es für Watkin Tudor Jones die letzte Zusammenarbeit gewesen sein. Schon in „Elysium“ läuft Musik des extravaganten südafrikanischen Duos „Die Antwoord“, das Jones mit Yolandi Visser bildet. Die zweiköpfige Rap-Rave-Band bildet zusammen mit Jose Pablo Cantillo in „Chappie“ eine Bande, die versucht, einen Roboter zu stehlen (ist „entführen“ falsch?), um ihn für ihre Zwecke einzusetzen. Sie nennen ihn Chappie. Er (Es? Sie, die Maschine?) soll eine Bank überfallen, damit 20 Millionen Rand Schulden bei einem anderen Gangster beglichen werden können.

Bewusstsein übertragen: Eine Art Reinkarnation bei Robotern?

Der talentierte Dev Patel spielt den Programmierer und Erfinder Deon Wilson, der die Grundlage dafür legt, dass Bewusstsein von einer Maschine auf die nächste übertragen werden kann. Zwar ist noch keine Kraft KI (Künstliche Intelligenz) geschaffen worden, bei der man von Bewusstsein sprechen kann, doch reden sich Freaks hartnäckig ein, dass es nur einen Frage der Zeit ist, bevor das alles Wirklichkeit wird. In „Chappie“ wird er entführt, als er gerade einen schrottreifen Roboter entwendet und wegschafft, um seine Pionierideen zur Maschinenintelligenz auszuprobieren. Ausgerechnet die drei „Kidnapper“-Chaoten sorgen für Menschlichkeit, in der Realität sind wir wohl auf uns selbst gestellt, um eine humane Zukunft zu erreichen.

Die Dreierbande, der Kanadier mit Südafrikahintergrund und die Symbolik: Amerika zerrissen

Noch etwas zu dieser Dreierbande. Die Sängerin ¥o-Landi Vi$$er wird im Film bei ihrem Vornamen Yolandi genannt; Jones heißt Ninja, vielleicht in Anlehnung an die Single „Enter the Ninja“, die 2010 in England unter den besten 40 landete. Der Dritte im Bunde hört auf den Namen „Amerika“ und wird – soviel muss an dieser Stelle verraten werden – gegen Ende der Story von einer riesigen Tötungsmaschine in zwei Teile zerrissen. Ob der Kanadier Blomkamp sich der Symbolik bewusst war? Immerhin gibt es Nord- und Südamerika. In der Schule lernte man erst, dass es fünf Kontinente gäbe. Später zählte man sieben, weil die Antarktis hinzukam und die Neue Welt sich verdoppelt hatte. Dabei wurde auf die genaue Grenze zwischen Nord- und Südamerika nicht eingegangen. Wahrscheinlich sah man sie irgendwo in Mittelamerika, vielleicht am alten Panamakanal, der auch den Staat Panama in zwei Teile schneidet.

Wo ist Nordamerika und: Blomkamp macht Spaß

Doch die Trennlinie, auf die es ankommt, ist die zwischen Lateinamerika und dem hohen Norden. Auch wenn es viele überrascht: Als der Nordamerikaner Blomkamp seine Tijuanareise unternahm, hatte er seinen Kontinent nicht verlassen. Mexiko, Kanada und das Land dazwischen bilden Nordamerika. Die hohe Mauer nördlich von Tijuana und Ciudad Juarez ist eher eine soziale denn eine Sprachgrenze. Die Mauer erinnert ein bisschen an die Bilder von den Grenzsicherungen zwischen Israel und seinen Nachbarn. Viele würden sagen, die Mauer zu Mexiko sei eine unsoziale Mauer. Immerhin verdanken wir Blomkamps (unangenehmen) Erlebnissen in Tijuana einen tollen Film.

Seine Filme machen Spaß und trotzdem mangelt es ihnen nicht an Denkanstößen und Tiefe. Die Gesellschaftskritik wird visuell, ist aber nicht zu dick aufgetragen und kommt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daher.

Roboter kommen bei ihm bisher immer vor. Das Wort folgt dem tschechischen ‚robota‘, das von der Bedeutung her der Zwangsarbeit nahekommt. Modern scheint der Begriff Android, veraltet der „Automat“, obsolet der Terminus „Golem“.

Am 5. März 2015 kam der Film in die deutschen Kinos, wo jetzt „Colonia Dignidad“, „Landstück“, „Robinson Crusoe“, „The Revenant“ und „Zoomania“ laufen. (Damit war die Bundesrepublik nicht hinterher: In New York war am 4. März Premiere, in der USA erst am 6. März 2015.)

„Chappie“ aus der Dose

Zum Glück: Seit kurzem erhält man „Chappie“ für weit unter 10 Euro preiswert als Bluray oder DVD. Wer „Chappie“ auf der großen Leinwand verpasst hat, spart immerhin Geld. Außerdem kann er sich das Werk mehrfach anschauen. Von Boni mal zu schweigen.

Sharlto Copley ist „Hardcore“

Sharlto Copley spielt ab 14. April auch in dem neuen Actionfilm „Hardcore“ die Hauptrolle. Wieder geht es um die Schwelle von Leben und Tod und kybernetisch aufgemotzte Kampfmaschinen, allerdings unter der Regie von Ilya Naishuller. Der russisch-amerikanische Streifen spielt dementsprechend im futuristischen Moskau und nicht in Johannesburg.

Filmmusik zu „Chappie“

Nicht „Die Antwort“ komponierte „Chappies“ Filmmusik, sondern Hans Zimmer. Dieser wird ab April mit Lebo M aus Südafrika und 70 Musikern durch Europa touren (siehe Hauptartikel im Kulturexpresso).
Zimmer wird selbst mit Gitarre und Keyboard auf der Bühne stehen. Das ist eine kleine Sensation, hat Zimmer doch schon über 100mal die Musik zu einem Film komponiert, aber bis 2014 nie für ein Konzert auf der Bühne gestanden. Wenn man mal von einem Festivalauftritt 2000 in Belgien absieht.
Im Oktober vor zwei Jahren gab er in London sein Debut und war innerhalb von 48 Stunden ausverkauft. Nun geht es ab April auf Tournee nach Mannheim, Hamburg, Berlin, Oberhausen, München, Zürich, Wien, Budapest, Prag, Paris und in viele andere Städte. Ob er dabei auch Musik aus „Chappie“ spielen wird, vielleicht in einem Medley, darauf dürfen wir gespannt sein.

Immer wieder Mexiko

Wie oft Mexiko an Filmen beteiligt ist, sogar den Top-10 der Weltgeschichte, davon erhält man hier eine Ahnung:

Journalismus ist wichtig und muss belohnt werden – „Spotlight“ gewinnt Oscar für Besten Film; Brie Larson Beste Darstellerin in „Raum“, der am 17. März in Deutschland startet; Kanada mehrfach Sprungbrett

und in diesem Artikel:

Mexiko im Aufwind – Berlinale-Bär und Oscars für den Panoramafilm „600 Millas“ und „Birdman“

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