Klagende Geige – “Anatevka” in der Oper Bonn

© Foto: Thilo Beu, 2016

Bonn, Deutschland (Kulturexpresso). Wie “Fiddler on the Roof” mussten sich die Juden im zaristischen Russland fühlen. Ähnlich jener Geige spielenden Figur Marc Chagalls, die wie keine andere die Gratwanderung zwischen Lebensmut und Hoffnungslosigkeit symbolisiert. Jerry Bock komponierte nach dem Buch von Joseph Stein und den Gesangstexten von Sheldon Harnick ein Musical, das vom Broadway aus als „Anatevka“ seinen Siegeszug um die Welt antrat.

Dabei ist Anatevka ein jüdisches Schtetl im zaristischen Russland, das nicht nur unter seiner Armut leidet. Hinzu kommt die Launenhaftigkeit der Politik, die schließlich in Pogromstimmung einmündet und der jüdischen Bevölkerung Anatevkas zu Beginn des letzten Jahrhunderts sogar das Existenzrecht abspricht. Packend und ergreifend erzählt und doch nicht ohne augenzwinkernden Humor, dem Karl Absenger in seiner Bonner Inszenierung mit einem ganzen Kaleidoskop der Gefühle meisterhaft Ausdruck verleiht.

Tradition und Revolution

Allen voran Tevje, der Milchmann, der seine Familie mehr schlecht als recht über die Runden bringt. Geradezu ein Glücksfall in dieser Rolle ist Gerhard Ernst, der auf liebenswerte Weise seinen Traum vom schnellen Reichtum träumt. Hat er sich doch zu sorgen um seine eigenwillige Frau Golde (Anjara I. Bartz) sowie fünf Töchter, davon drei in heiratsfähigem Alter (Sarah Laminger als Tzeitel, Maria Ladurner als Hodel und Lisenka Kirkcaldy als Chava).

Und genau dies ist der Ausgangspunkt für die sich anbahnenden Konflikte mit der bislang von allen akzeptierten Tradition. Bekennen sich doch nun die drei Töchter zu einer unerwarteten Liebesheirat, die nicht nur der Heiratsvermittlerin Jente (Maria Mallé) ernsthafte Probleme bereitet. Und die, weit schlimmer, die väterliche Autorität mit ihrem letzten Wort außer Kraft zu setzen droht. So bedarf es zur Gesichtswahrung eines von Tevje inszenierten Albtraums mit Goldes verstorbener Großmutter (Barbara Teuber), um ein an Fleischer Lazar Wolf (Martin Tzonev) gegebenes Eheversprechen wieder rückgängig zu machen.

Dramatischer Aufbruch

So können der arme Schneider Mottel (Christian Georg) und der von revolutionären Ideen getriebene Student Perchik (Dennis Laubenthal) als zukünftige Schwiegersöhne noch mit Verständnis und dem erhofften väterlichen Segen rechnen. Nicht jedoch der nichtjüdische Russe Fedja (Jeremias Koschorz), den er, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, mitsamt seiner Lieblingstochter Chava gnadenlos verstößt. Und diese Trennung aufrecht erhält selbst noch zu einem Zeitpunkt, als die Gewitterwolken über der jüdischen Gemeinde von Anatevka längst aufgezogen sind.

Es ist die zu Herzen gehende Stunde des Abschieds, die nicht nur die Familie sondern auch die ganze Dorfgemeinschaft auseinander reißt. Eine Situation, in der sich zeigt, auf welcher Seite der sich bislang leutselig gebärdende russische Wachtmeister (Stefan Viering) zu stehen hat. Bei einem mit überzeugenden Stilmitteln gestalteten dramatischen Flüchtlingstrek (Ausstattung: Karin Fritz, Licht: Friedel Grass) in eine Ungewissheit, der sich, daran soll wohl erinnert werden, schon wenige Jahrzehnte später unter anderen politischen Vorzeichen noch steigern sollte.

Farbige Glanzpunkte

Und zweifellos setzt die Inszenierung auch Assoziationen frei zu der Flüchtlingssituation unserer Tage. So sind es Szenen wie diese, in denen das Beethoven Orchester Bonn unter der musikalischen Leitung von Stephan Zilias unglaublich anrührend aufspielt. Als ebenso überzeugend erweisen sich auch der Chor des Theater Bonn, der Kinder- und Jugendchor sowie eine Tänzergruppe (Choreographie Vladimir Snizek), die dem jüdischen Dorfleben Anatevkas, vor allem während der Hochzeitsfeier, mit ihren tänzerischen Ausdrucksmitteln farbige Glanzpunkte verleiht.

So erbringen die abschließenden lang anhaltenden stehenden Ovationen den Erweis, wie jung das Stück in all den Jahrzehnten geblieben ist. Und wie sehr es diese Bonner Inszenierung auch heute noch vermag, die klagenden Töne des „Fiddler on the Roof“ vernehmbar zu machen.

Weitere Aufführungen: 13. und 30. April, 15. und 22. Mai, 03., 12., 15., 19. und 22. Juni 2016.

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