Tony Cragg, Darren Almond und Samuel Gratacap im Museum für moderne Kunst Großherzog Jean in Luxemburg

© 2017, Foto: Eva-Maria Koch

Luxemburg, Luxemburg (Kulturexpresso). Am 10. Februar 2017 fand im Museum für Moderne Kunst Großherzog Jean (MUDAM) in Luxemburg die Vernissage zu einer Ausstellung statt, welche die Künstler Tony Cragg, Darren Almond und Samuel Gratacap zeigt. Mit dieser Ausstellung präsentiert das MUDAM wieder einmal eine bravouröse Gratwanderung. Hochwertige, zeitgenössische Kunst mit wissenschaftlich-philosophischen Fragestellungen begegnet dem Thema der hochaktuellen Flüchtlingsdramatik.

Samuel Gratacap – Empire (von 11.02.2017 bis 14.05.2017)

© 2017, Foto: Eva-Maria Koch
© 2017, Foto: Eva-Maria Koch

Besonders berührend ist eine sichtbare Zeitreise in der menschlichen Katastrophengeschichte: Samuel Gratacaps Fotoimpressionen des tunesischen Flüchtlingslagers Choucha hängen in einem Raum mit Blick aus dem MUDAM auf eine einzigartige Kulisse: einen Festungsgraben der mittelalterlichen Festungsmauern Luxemburgs. Wie ein roter Faden wird eine Geschichte in der Geschichte erzählt und jede Geschichte spricht von Gewalt und menschlichem Leid – eine endlose Geschichte!
Für diese Fotodokumentation besuchte der katalanische Fotograf Samuel Gratacap zwischen 2012 bis 2014 mehrfach das Lager an der libyschen Grenze. Mehrere hunderttausend Menschen durchliefen auf der Flucht vor den Konflikten im benachbarten Libyen, in Westafrika und am Horn von Afrika, dieses von der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) eingerichtete Notlager. Seit dessen offizieller Schließung 2013 leben jedoch weiterhin Hunderte von Flüchtlingen und Asylbewerbern schutzlos dort unter katastrophalen Umständen.

Neben den Fotos sind mehrere Polaroid-Serien sowie einige direkt auf die Wand aufgebrachte Bilder zu sehen, außerdem Transkripte von Aussagen der Betroffenen sowie ein vom Künstler gezeichneter Lagerplan, dazu mehrere Videosequenzen mit Fluchtszenen, die von Handy zu Handy unter den Flüchtlingen kursierten. Kinder durfte er nicht fotografieren, da sie zu schutzbedürftig und traumatisiert seien, wurde ihm gesagt, berichtet er. Gratacap versucht, mit der ihm eigenen einfühlsamen, feinfühligen Art, den Stimmen von Choucha in ihrer Einzigartigkeit Gehör zu verschaffen.

Gratacap geht weiterhin sehr empatisch an seine Recherchen heran und arbeitet auch jetzt dort als Freelance-Fotojournalist.

Darren Almond – Timescape (vom 11.02.2017 bis 14.05.2017)

© 2017, Foto: Eva-Maria Koch
© 2017, Foto: Eva-Maria Koch

Der Brite Darren Almond erforscht die Welt bereisend mit seiner Kunst den Weltraum und die Natur. Physik und Metaphysik beschäftigen ihn und sprechen aus allen seinen ansprechenden Werken, vortrefflich in den Räumen des MUDAM installiert. Große Fotografien von einem kalbenden Polareisberg, große Gemälde des Universums, kunstvoll mit Schichten von Wasserfarbe auf die Leinwand gebannt, große Fotos der Megalithen von Callanish in Schottland, Spiegel mit Zahlen, die vom Anfang und vom Ende sprechen, goldene kleine Zylinder auf dem Boden, die Astronauten symbolisieren – Almond stellt Fragen nach der Zeit, dem Raum, der Geschichte und der Landschaft. Seine subjektive Grenzerfahrungen und seine kaum fassbaren Erfahrungen jenseits des unmittelbaren Erlebens zeigen sich dem Museumsbesucher, um auf diesem Weg die Grundlagen von Wahrnehmung und Wissen zu hinterfragen. Die Videoinstallation des sanft vor sich hin plätschernden Stufenbrunnens Chand Baori im indischen Radjasthan verschafft dem Besucher meditative Momente beim Lauschen von indischer Sitar-Musik. Das besondere Grün der Algen auf der Oberfläche haben ihn als Künstler in ihren Bann gezogen, erklärt Almond die Entstehungsgeschichte dieses Projektes.

Timescape – jedes Werk hat seine eigene Zeitebene und der Engländer Almond hat in jedem Fall einen beeindruckenden, tiefenphilosophischen Ansatz, der sich in allen seinen Werken wiederspiegelt.

Tony Cragg (vom 11.02.2017 bis 03.09.2017)

© 2017, Foto: Eva-Maria Koch
© 2017, Foto: Eva-Maria Koch

Schon gleich in der riesigen, lichtdurchfluteten Eingangshalle des MUDAM nehmen einen drei riesige eliptische Holz- und Aluminiumskulpturen gefangen: drei blaue, sich in Etagen nach oben schlängelnde Säulen, ein rotes, an einen kleinen, dicklichen Saurier erinnernden Koloss mit segelartigen Austülpungen und eine alabasterfarbene, schlangenähnliche Skulptur, die ihre Windungen vertikal im Raum aufbäumt. „Die Schlange symbolisiert mich nach einer Zeit, wo es mir sehr schlecht ging und heißt „I’m alive“.“ erklärt Cragg.
Der renommierte Brite Tony Cragg lebt in Wuppertal und hat auch hier sein Atelier. Pina Bausch, die verstorbene Wuppertaler Ausdruckstänzerin tanze durch die Räume, scherzt er schelmisch lächelnd.

Auch Cragg beschäftigt sich mit metaphysischen Fragen und stellt in seinen phantastischen, riesigen Skulpturen wissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen nach. „Was wir physisch und mental sind, entsteht durch die materielle Welt um uns herum.“ philosophiert er beim Rundgang durch die vielen Räume, in denen eine interessantere Skulptur nach der anderen zu bestaunen ist.

„Was ist unter der Oberfläche? Millionen von atomischen Explosionen!“ erklärt er vor einer mittelgroßen, an eine Supernova-Explosion erinnernde runde, rote Skulptur.

© 2017, Foto: Eva-Maria Koch
© 2017, Foto: Eva-Maria Koch

Eine mannshohe, kopfähnliche, alabastergrüne Figur gibt wie eine Art Homunculus seine Sinnesorgane in übersteigert großer Form wieder, die Ohren, den Mund, die Nase – er zieht alle Vernissagebesucher in seinen Bann mit seinen Erklärungen seiner Sinnesphysiologie, die er mit gestikulierenden Händen lautmalt. In einem Raum befindet sich ein Holzboot ausgestellt, welches über und über mit silbrigen Haken übersäht ist, die ins Holz hineingeschraubt wurden.

Cragg hat eine Abneigung gegen „immer dasselbe“, was langweilig und dumm sei. Skulpturen sei die einzige Darstellungsform, die sich gegen Formen wehrt. Skulpturen erlauben Formen, die in der Natur nicht vorkommen, erläutert er. Dieses sei seine Freiheit!

In der Tat – Cragg’s „Repertoire“ an erstaunlich ästhetischen, an Kreativität überbordenden, aus Zeit und Raum fallenden Skulpturen, die jeder Ähnlichkeit mit irgendetwas entbehren, sind extrem bewunderswert. So viel Phantasie „gibt es auf keinem Schiff“ – um im Bild zu bleiben und wiederzugeben, was den Besucher der Ausstellung erwartet.

Einsteins Zitat „God does not play dice“ (Gott spielt keine Würfel) hat er in einer aus Zeit und Raum fallenden Skulptur wiedergegeben, die über und über von Würfeln übersäht ist. Ebenfalls im gleichen Raum befinden sich Glasskulpturen, die er in Murano anfertigen ließ. Eine Installation aus milchig-trüben Glasflaschen füllt eine Ecke neben einer Installation von bauchigen, ebenfalls milchig-trüben Glasflaschen. Craggs Kreativität ist ein unerschöpflicher Urquell, aus dessen Fluten der Besucher sich laben kann.

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