Die matriarchale Vergangenheit erwacht im Gorki – „Rewitching Europe“ von Yael Ronen & Ensemble

"Rewitching Europa" im Maxim-Gorki-Theater 2019 in Berlin. © Foto: Esra Rotthoff

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Marta Górnicka hat sich mit ihren Chören zu unterschiedlichen, brisanten politischen Themen international einen Namen gemacht. 2018, beim 28-jährigen Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung, unterzog Górnicka mit einem Ensemble aus 50 Performer*innen das Grundgesetz einem Stresstest. Die Veranstaltung vor dem Brandenburger Tor erreichte eine breite, begeisterte Öffentlichkeit.

Im September 2019 gründete Marta Górnicka am Maxim Gorki Theater „Das Political Voice Institute“, mit dem sie ihr nächstes Projekt vorbereitet.

In der neuen Arbeit von Yael Ronen & Ensemble, „Rewitching Europe“, wird das Matriarchat wieder lebendig und vertreibt die männliche Vorherrschaft. Zeichen und Wunder geschehen, um das zu bewirken.

Zu Beginn wird das Publikum vor den Neben- und, womöglich auch späten, Nachwirkungen des Theaterabends gewarnt. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit könne sich einstellen, das bei Betroffenen bis zur Einweisung in die Psychiatrie führen könne.

Das Thema, die Klimakatastrophe, ist allerdings geeignet, in Depression zu verfallen oder es einfach zu verdrängen. Lindy Larsson als stimmgewaltiger Sänger, der einzige Mann im sechsköpfigen Ensemble, profitiert zunächst von der Krise. Weil Greta Thunbergs Mutter sich weigert, Flugzeuge zu besteigen, wurde sie als Opernsängerin gefeuert, und Lindy bekommt ihre Rolle in „Rheingold“.

Ein Heilsweg ist es jedoch nicht, der zu Richard Wagners Germanenschwulst führt. Lindy singt die Partie der Erdmutter Erda, und deren Worte „Alles was ist, endet“, lassen ihn in unendliche Traurigkeit und Verzweiflung verfallen.

Lindy kann nicht mehr singen und wird, zwecks Selbstfindung, in eine verlassene Gegend in Lappland geschickt. Dort begegnet ihm Orit Nahmias als sprechendes Rentier, das aus einem der „Matrix“-Filme heraus gefallen zu sein scheint. Statt der Pillen hat es rote und blaue Beeren im Angebot, von denen eine Sorte jedoch gerade ausgegangen ist.

Das Rentier begrüßt den Sänger als Auserwählten, was ihm nicht zu besonderer Ehre gereicht, denn er wurde nur deshalb auserwählt, weil kein anderer da war. Auf jeden Fall muss er raus aus der Matrix. Das bedeutet für ihn, sich den Frauen anzuschließen und das Patriarchat aus sich heraus zu kotzen, weil das, auch für Männer, völlig unbekömmlich ist.

Am Anfang erzählt Lea Draeger von den Hexenverfolgungen, die mit dem Beginn der Neuzeit einsetzten und zigtausend Frauen das Leben kosteten. Das gesamte Ensemble ergreift das Wort, die Schauspieler*innen gehen ins Publikum, teilen ihr Wissen mit und sind nicht verständlich, weil alle gleichzeitig reden. Die Geschichte ist ohnehin schon bekannt.

Auch über die Bedrohungen durch die zunehmende Erderwärmung gibt es nichts zu sagen, was nicht alle schon wissen. Manchmal wirken die Akteur*innen ratlos, während auf der Bühne Feuersäulen aufsteigen und Funken und Rauch alles zu verschlingen drohen. Die Apokalypse wurde schon in allzu vielen Katastrophenfilmen heraufbeschworen.

Es gibt aber auch andere Bilder zu sehen: Videoanimationen von riesigen Schlangen, nicht bösartig oder eklig, sondern schöne Symbole des Lebens und der Heilkunst, bewegen sich elegant und harmonisch auf einer Leinwand auf der Bühne und auch auf den Wänden des Zuschauerraums, und Statuen von Göttinnen erscheinen.

Die matriarchale Vergangenheit erwacht im Gorki. Bei den derzeit stattfindenden Renovierungsarbeiten wurden menschliche Überreste gefunden, die ältesten, die jemals entdeckt wurden. Die Knochen dieses Gretchens liegen an einer uralten Kultstätte.

Ruth Reinecke kommt diesem Geheimnis auf die Spur. Ihre Großmutter erscheint ihr im Traum, und Ruth wird so lange von Visionen verfolgt, bis sie sich endlich entschließt, in die Baugrube hinunter zu steigen, wo sie eine kleine Göttinnenstatue findet. Damit nicht genug, muss nun auch noch ein Blut-Ritual erfolgen, zu dem Ruth ihre menstruierenden Kolleginnen zusammentrommelt.

Mit einigem Widerwillen lassen sich die Schauspielerinnen auf die Prozedur ein, auch Ruth Reinecke spart nicht mit kritischen Bemerkungen und hofft, nach dieser Aktion endgültig von ihren Visionen befreit zu sein.

Es geht um das allseits geforderte Umdenken, mit dem sich Yael Ronen und ihr Ensemble kreativ, geistreich und mit hintersinnigem Humor auseinander gesetzt haben. Ob das Uralte, auf das hier zurückgegriffen wird, sich bewähren kann, bleibt abzuwarten. Hilfreich kann es auf jeden Fall sein, damit endlich verschwindet, was die Erde zerstört: Der Kapitalismus und das Patriarchat.

„Rewitching Europe“ von Yael Ronen & Ensemble hatte am 01.11. Premiere im Maxim Gorki Theater. Nächste Vorstellungen: 29.-31.12.2019.

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