Die Russen sind schuld! Wenn Deutschlands Fußball-Herren ausscheiden, sind fast alle Deutschen betroffen

Deutschland im Schatten. © 2018, Foto: Andreas Hagemoser

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Die Russen sind schuld. Wer sonst. Nach dem Abpfiff tiefe Trauer. Verstörung, Irritation. Sprachlosigkeit. Sogar in der Kabine. Einzig Mats Hummels findet Worte; Kritik äußert er nicht – außer Selbstkritik. Doch die Suche nach den Schuldigen beginnt oder wird beginnen. Jogi Löw ist so unschuldig wie seine weiße Weste. Oder die Trikots der DFB-Mannschaft. Mats Hummels ist unschuldig. Erst war er verletzt, am letzten (sic) Spiel hat er mitgewirkt – und wie! Er schoss und köpfte mehrfach aufs Tor, obwohl er neben J. Boateng Verteidiger ist. Er hätte fast das, was normal ist, mitgeholfen zu erreichen: Einen deutschen Sieg.

Unvorstellbares ist passiert.

Sogar Jogi Löw wird darüber schlafen. Hoffentlich wird er nicht vertragsbrüchig, sondern bis 2022 bleiben. So lautet der Auftrag. Aber wenn er es nicht war, wer dann?

Einen Fußball kann man nicht hacken: Trotzdem: bestimmt waren die Russen schuld. Wer sonst?

Wenn der Fußball Trauer trägt

Die Landesflagge der Bundesrepublik Deutschland trägt schwarz. Ganz oben. Und genauso schwarz sehen jetzt viele. Eine Kollegin sagte: „Das ist ganz schrecklich, denn wie können die Deutschen jetzt ihr Nationalbewusstsein ausleben? Der Fußball war die einzige Möglichkeit!“

Nun, das stimmt zwar nur zum Teil.

Deutschland ist Weltmeister

Denn 1.: Deutschland ist Fußballweltmeister. Immer noch. Bis ein neuer gefunden werden wird. Etwa am 15.7.2018. Also Kopf hoch bis zum 15. Juli!

2. Deutschland hat 2017 den Confed-Cup gewonnen. In Russland. Daran waren ausnahmsweise mal nicht die Russen schuld. Oder doch? Immerhin: in KAZAN (zu deutsch Kasan) spielte man gegen Chile, oder dessen Nationalmannschaft – nur 1:1.

Wurde aber letztlich Meister und holte den Pokal. In einem Spiel gegen Chile (sic). Der Confederations-Cup, auch Mini-WM, wird alle vier Jahre ausgespielt, genau wie der World Cup. Als Generalprobe findet er immer im Vorjahr der WM im selben Land statt, also 2021 in Katar. Bis dahin bleibt der Pokal in deutscher Hand.

3. Im selben Jahr wurde DEUTSCHLAND U-21-Europameister (im Herrenfußball). [Nicht nur auf der Nürnberger U-Bahn-Linie waren die deutschen Jungs – und ein paar junge Erwachsene, schon gut – europabester, sondern unter denen, die zum Zeitpunkt X unter 22 bzw. 21 Jahre alt waren. (2017 also die, deren Tag der Geburt am/ nach dem 1.1.1994 lag.) Bei durchaus starker Konkurrenz. Findet seit der EM in den Niederlanden 2007 in den ungeraden Jahren statt, also alle 2 Jahre. -Dort spielen Leute wie der französische Teenager Kylian Mbappé, der erst am 20.12. 20 werden wird; 2016 U-19 Europameister mit Frankreich.]
Übrigens ganz gute Voraussetzungen für 2022 in Katar. Das hat auch fünf Buchstaben, wie Kasan, beginnt mit ‚K‘ und hat zwei Silben auf ‚a‘, aber das hat ja nichts zu sagen.

Und zwischendurch ist noch EM. 2020.

Da ist Korea nicht dabei!
Weder Süd noch Nord. Garantiert nicht! Kopf hoch!
[Grund: EM bedeutet hier nicht nicht Effektive Mikroorganismen (deutsch von Effective Mikroorganisms oder „EM“, wie Entdecker Professor Teruo Higa sie im Japanischen selbst genannt hat), sondern Europameisterschaft. Ein Begriff, der auch im Handball und anderen nicht nur Ballsportarten greift.- Noch ein Trost: aus Ostasien kommt sehr viel Gutes.]

(zu 1.: Das ist so ähnlich wie mit Angela Merkel: Sie konnte als neue Bundeskanzlerin nicht gewählt werden, solange die neue Koalition nicht stand. Jamaica machte Probleme, der Verrat der FDP. Fast ein Dolchstoß, doch dann ging es ja nochmal gut, und es geht hier nicht um Politik. Eher um Soziologie, Psychologie – und Recht: Wer ist schuld?)

Fußball ist Nebensache. Das mag die offizielle Version sein. So mancher Fußballfan würde diesen Satz, mit Einschränkungen und so manchem ‚aber‘ natürlich, äußern. Im Innern jedoch, im Herzen ist vielen klar: Der Fußball steht über allem.

Die Deutschen und die Russen sind schuld – (wie) im Film

In Spielfilmen gibt es ein bekanntes Muster. Schon mal aufgefallen? Wenn – gern auch namenlose – Bösewichter eine Rolle spielen müssen fast aus einem Schurkenstaat, dann greift man entweder auf „die Deutschen“ – manchmal synonym zu: Die Nazis – zurück oder auf „die Russen“.

Da es hier um die Frage geht, warum Deutschland kein Tor geschossen hat (in anderthalb Stunden – ein Tor hätte die Welt verändert!), können es die Deutschen ja nicht gewesen sein. Also bleibt nur die zweite Möglichkeit. Die Russen sind schuld.

Manchmal verändert die Welt ein Tor!

Ein Pferd, ein Tor, ein Königreich für ein Tohhhhhhhhhhhhr!

Letztlich landete „Deutschland“ (der WM-Kader der Herren eigentlich) in der unteren Tabellenhälfte. Ob auf dem letzten oder vorletzten Platz – wer will das schon so genau wissen. Die „Berliner Zeitung“ schrieb am 27. Juni, um sicher ins Achtelfinale zu gelangen, muss mit zwei Toren Unterschied gewonnen werden. Nun – das gelang. Den Koreanern. Das mit den zwei Toren. Leider nützte ihnen das auch nicht, sie werden in ihre Heimat zurückkehren. Sind raus aus dem Turnier. So wie die Deutschen. Unglaublich.

Mit Bonbons beworfen

Vielleicht werden die koreanischen Fußballer diesmal nicht mit Bonbons beworfen. Weil sie nicht weitergekommen sind?

Nein, nein – in Korea ist es ganz schlimm, mit Bonbons beworfen zu werden. In der Fernsehsendung „Kwartira“ (auf deutsch: Wohnung, das ‚r‘ bitte rollen wie in Süddeutschland und Österreich) zeigte man die Bilder von der Steinigung, Entschuldigung, Bewerfung. Stumm standen Spieler in Sakko und Schlips und wurden beworfen. Bei der WM im eigenen Land trug die Begeisterungswelle die Mannschaft noch unter die ersten vier. Das ist lange und nicht so lange her: 16 Jahre. Es war 2002. Die Spiele fanden in der Republik Korea und Japan statt.

Ehre ist in Ostasien nicht so wichtig wie in der Türkei. Im Fernen Osten geht es darum, das Gesicht zu wahren.

Man kann doch in der Vorrunde ausscheiden. Schließlich war man noch nie Weltmeister. So wie die deutsche Mannschaft zum Beispiel. Die Mannschaft.
Nun scheidet man gemeinsam mit dem amtierenden Weltmeister aus dem Turnier. Wieder hat Korea etwas mit Deutschland gemein.

Ein Sieg über den Weltmeister. Das ist sehr, sehr viel wert.

Koreaner und Deutsche teilen das Leid der Teilung

Der DDR-Mannschaft gelang das. 1974. Jeder kennt Sparwasser. Der schoss das Tor. 0:1 in dieser deutsch-deutschen Begegnung. Manche Fans der DFB-Elf rieben sich verwundert die Augen. Es war (auch) in der Vorrunde. Hatte also nichts zu bedeuten. Die DFB-Elf war bereits qualifiziert.

Doch die „DDR“, wie sie anfänglich überall genannt wurde, später nur noch in der Springer-Presse, hatte die Mannschaft aus „dem Westen“ besiegt. Dann fuhr man nach Hause. Die deutsche Mannschaft – die DFB-Auswahl – wurde dann vor Holland Weltmeister. Das zweite Mal nach 1954. 2:1 gegen die Niederlande. Müller – Tor! Gerd, nicht Thomas. Das Siegtor.
Die Nationalmannschaft der Nachbarn waren nie wieder so nah dran am World Cup. [Das ist richtig, kann man aber auch anders sehen, denn 1978 und 2010 wurden die Niederlande ebenfalls Vizeweltmeister. Wann’s näher dran war, ist subjektiv. – Auch möchten wir uns nicht am Spott beteiligen. Sport ist nur einen Buchstaben entfernt. Die Niederlande sind immerhin zwei Buchstaben von der Niederlage entfernt.] Durch einen Flugzeugabsturz wurde einmal fast die ganze Nationalmannschaft ausgelöscht, als sie aus holländischsprachigen Gebieten Amerikas zurückkehren wollte. Seitdem sind die lieben Nachbarn vom Pech verfolgt und können einem echt leid tun. Die Russen sind schuld? Wohl kaum.

Die einzige Mannschaft, die 1974 bei der WM den Weltmeister bezwang, war die der DDR.

Das gelang jetzt so ähnlich Südkorea. Zwar besiegte auch Mexiko die Nationalelf auf dem Platz, doch waren da noch alle Chancen offen. In der Wahrnehmung – und nur um die geht es oft – wird die südkoreanische Herrenmannschaft die sein, die die deutsche vom Thron gestoßen hat.

Ausgeschieden – zum ersten Mal in der Vorrunde

Die deutsche Elf war noch nie in der Vorrunde ausgeschieden. Noch nie. Frankreich, Argentinien, andere Weltmeister wie Spanien und Italien. „Deutschland“ – noch nie. Im Fernsehen (ZDF) war die Rede von „historisch“. Ein Wort, das viel zu schnell in den Mund genommen wird. Wenn man etwas wichtiger machen will als es ist.

Es ist schlicht zum 1. Mal passiert. Das ist auch alles.

Südkorea hat’s erreicht. Auch wenn irgendwann Südkorea gar nicht mehr existieren wird. Alle Länder werden irgendwann wieder vereinigt. Warum sollte es auf der koreanischen Halbinsel anders sein? Zypern? Jemen, Vietnam – Deutschland!

Die DDR gibt es auch nicht mehr. Doch Sparwassers Ruhm währte. Südkorea schoss sogar zwei Tore. Wen interessiert es später, ob das in der Nachspielzeit geschah. Ob das eine Abseits gepfiffen wurde und eine Frage für den Videobeweis war. Ob Neuer im Tor stand oder stürmte. Was in den Annalen bleibt, ist das 2:0. Das 0:2.

Gastgeber gewinnen

Immer wieder gewannen in großen Turnieren Mannschaften aus dem Gastgeberland. Die Wirkung der Psychologie ist erstaunlich. Immer noch zum großen Teil unerforscht und unverstanden.

Ein eigenes Thema für Sportseite, Feuilleton und wissenschaftliche Arbeiten. Nicht jetzt.

Jetzt wird getrauert.

Sotschi (Sochi) – haben die Deutschen verdient

Hätte „Deutschland“ das zweite Spiel verloren, wäre es im dritten um nichts gegangen. So wie in dem Spiel zwischen Ägypten und Saudi-Arabien. So haben wir uns alle noch Hoffnungen auf den Endsieg gemacht – den Gruppensieg, und so sind wir alle jetzt besonders enttäuscht.

Sotschi und Kazan, das ist wie bei Asterix und Obelix. Majestix, der Bürgermeister oder andere alte Kempen erinnern sich immer nur an einen Schlachtort – den, wo sie gewonnen haben. Der andere sollte am besten nicht genannt werden. Alesia …

4 Tage im Juni, vom 23. bis zum 27. war das deutsche Volk im Freudentaumel. Es gab Autokorsos, äh -Krosos. Nach dem Kroßartigen, wirklich kroßen Tor von Toni Kroos. Und jeder kannte oder erzählte die Geschichte von dem Mann, der allein noch auf dem Platz steht und Torschüsse übt für Freistöße. Wenn die anderen schon längst unter der Dusche stehen.

Der Fußball dringt weit in die Gesellschaft ein, ins Unterbewusstsein. Termine werden verschoben, es gibt Rabattaktionen. Manche Wirtschaftszweige, wie die Kinos, liegen am Boden und bieten, wie das Cinestar im Sonycenter, alle Filme mit Kundenkarte für 5 Euro an.

Legenden werden gebildet.

Geschichten, die früher am Lagerfeuer, bei den Karawanen oder auf dem Jahrmarkt von Geschichtenerzählern weitergegeben wurden, entstehen. Orale Tradition gibt es auch heute in einem aufgeklärten Land. Denken wir an das 7:1, an 1974 oder ’54 gar, können wir vielleicht die Schmach vergessen.

An Kazan sind die Russen schuld

Kazan heißt rückwärts: Nazak, oder Na zak, also: Na, zack!

„Na“ heißt auf russisch: bitteschön, oder: Da hast du! Zack!

– Einspruch! Auf deutsch schreibt man den Namen der Stadt „KASAN“. Na gut. Dann nicht. Nochmal davongekommen.

Aber sonst sind die Russen schuld! Immer. An allem, wenn es nicht gerade ein Schurkenstaat ist. Aber auch die haben ja manchmal Kontakte nach Moskau. Sehen Sie? Eben.

Die Russen sind schuld

Die Russen sind schuld.

q.e.d.

Mexiko gewinnt

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