Kreuzberger Kiezdichter. Deutschland besinnt sich darauf, zu dichten und zu denken. Beispiel: Brüche/ Aufbrüche

Veranstaltungsort "Kiezstube Mehringplatz" am Halleschen Tor in Kreuzberg. © Foto: Andreas Hagemoser, 2018

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Schon oft bei vergangenen Fußballgroßereignissen wurde diskutiert, dass die Deutschen sich auf ihre Kern-Kompetenzen konzentrieren sollten. Brüche/ Aufbrüche ist ein Beispiel dafür. Kreuzberger Kiezdichter trugen um 19 Uhr in der Kiezstube am Mehringplatz ihre Werke vor und Musik fehlte nicht.

Eine Lesung des Kreuzberger Dichtungswerkes (ehemals Madames, Eigenschreibung MadaMes). Bereits der Name zeugt von Phantasie. Seit Jahren arbeiten Werbung und Zeitungsüberschriften mit Doppeldeutigkeiten.

Brüche/ Aufbrüche – auch von MakeCity bewusst gemacht

„Kreuzberger Dichtungswerk“ – in Eigenschreibung kleingeschrieben – klingt sehr nach einer der vielen kleine Gewerbe- oder Industrieunternehmen, größeren Handwerksbetriebe oder kleinen Manufakturen, die typisch für die „Berliner Mischung“ von Wohnen und Gewerbe ist. In den Hinterhöfen gibt es immer noch viele Fabriketagen, auch wenn sie immer öfter als luxuriöses Loft, Kunstgalerie oder zu anderen Zwecken genutzt werden. Das eben zu Ende gegangene MakeCity, das sich dieses Jahr auf die südliche Friedrichstadt konzentrierte, die in Kreuzberg liegt mit ihrer Südgrenze an Hochbahn und Landwehrkanal (Gitschiner Straße/ Hallesches Tor), machte das noch einmal deutlich. Neubauten auf kriegszerstörten Brachflächen und dem Gelände des ehemaligen Blumengroßmarktes werden in dem Bewusstsein und in der Tradition hergebrachter Nutzungskonzepte errichtet.

Dazu gehört immer wieder eine Art Kultur-Allmende.

So im Erdgeschoss des Neubaus gegenüber vom ehemaligen Berlinmuseum in der Lindenstraße, das jetzt zum Jüdischen Museum gehört. Wenn man mit dem Rücken zum Jüdischen Museum steht, sieht man vor sich einen großen Platz, der seit kurzem einen Namen trägt. Geradeaus die Halle des Blumengroßmarkts, die jetzt als jüdische Akademie dient. Links und und rechts zwei Neubauten. Der rechte geht um die Ecke zur Markgrafenstraße, wo man nebenan die letzten drei nicht zerbombten Häuser der südlichen Friedrichstadt findet.

Dieser Eckbau beherbergt face-to-face mit dem Platz eine lange Front von Ausstellungs- oder anderweitig „gemeinnützig“ nutzbaren Räumen.

So einen für Anwohner oder Kulturschaffende nutzbaren Raum gibt es auch, vermutlich von der Wohnungsbaugesellschaft gestellt, am Mehringplatz.

Brüche/ Aufbrüche – Mehringplatz und südliche Friedrichstadt

Der nach dem Mauerbau von Mitte abgeschnittene Teil der Friedrichstadt schlief teils einen Dornröschenschlaf. Während auf der Westseite der Mauer vom Potsdamer Platz über Checkpoint Charlie bis SO36 der Betonsockel der Berliner Mauer als Fahrrad-Expessway benutzt wurde, diente der Checkpoint C (Kontrollpunkt C) nur Allierten und Ausländern mit Kfz. als Durchlass. Südlich davon: Wohnen, Großmarkt, Baulücken. Am Kanal der Querverkehr, Durchgangsstraßen. Bereits die U-Bahn wurde außerhalb der Stadt parallel zur Stadt- bzw- Akquisemauer errichtet, nun auch oft genutzte Straßenverkehrswege.

Hallesches Tor

Das Hallesche Tor, mangels alter Mauer und mangels Tores als solches nicht mehr zu erkennen, erhielt sich als Name der U-Bahnstation, umso mehr es ein Umsteigebahnhof war und ist. Da „Stadtmitte umsteigen“ von U6 zur U2 von 1961 bis 1989 nicht möglich war, flutete der Personenverkehr durch die unter dem „Osten“ hindurchfahrende U6 am Halleschen Tor in Ost-West-Richtung. Dort gab es ja eine Umsteigemöglichkeit zur U1, der ältesten U-Bahnlinie. Man kann sie an dem aufgeständerten Stahl zwischen Oberbaumbrücke und Nollendorfplatz bis heute gut erkennen.

Die teilungsbedingte, übergroße Bedeutung des Bahnhofs Hallesches Tor

Da auch von Süden her vor dem Weiterbau der U7 keine Ost-Westschnellbahnverbindung zwischen Endstation Alt-Mariendorf und Halleschem Tor bestand, konzentrierte sich das Umsteigen mit viel Treppengetrappel in luftiger Höhe über dem Kanal auf den U-Bahnhof Hallesches Tor.

Vorausgesetzt natürlich, man ignorierte willentlich die Ringbahn S4. Der S-Bahn- und Reichsbahnboykott, mit dem das Ost-Berliner Regime und die DDR abgestraft wurden, war wahrscheinlich der am besten funktionierende Großboykott der Geschichte. Die Deutsche Reichsbahn erzielte kaum mehr Einnahmen, die Anlagen verfielen, die aus den 20er Jahren stammenden Waggons fuhren endlos weiter.

S-Bahnboykott machte U-Bahnhöfe wie Hallesches Tor wichtiger – ohne Rücksicht auf Kohlendioxid und Feinstaub

Nach einem Streik der Belegschaft übernahm die BVG die S-Bahn in den 80ern. Der Betrieb funktionierte nun gut, doch leider standen die meisten Linien nicht mehr zur Verfügung, darunter die S4, die die meisten als S41/42 kennen; je nachdem, ob der Kreis links- oder rechtsherum befahren wird. Viele Linien und Abzweigungen liegen bis heute brach; es ist unklar, ob sie jemals wieder befahren werden (Wernerwerk, Siemensstadt u.a.). Es sollte Jahre, gefühlt Jahrzehnte dauern, bis seit den Ereignissen von 1980/83 mit Streik und BVG-Management der S-Bahn wenigstens wieder Teile des Rings befahren wurden. Erst der „Südring“, dann der Nordring. Heute fährt man auf dem Vollring.

Ja, es musste grundsaniert werden, ja, im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit gab es viele Aufgaben und trotz riesiger Budgets stand Berlin oft weniger zur Verfügung. Manchmal schaffte man es verwaltungsseits noch nicht einmal, rechtzeitig Anträge für Fördergelder zu stellen, obwohl die Töpfe voll waren und die Gelder dann einfach nicht in Anspruch genommen werden konnten. Ein bisschen Bitterkeit bleibt bei den Berlinern. Der S-Bahnausbau ging zu langsam und ist bis heute nicht abgeschlossen. Die IGEB wirkt wie ein einsamer Rufer in der Wüste.

Gleichzeitig pusten die Busse tonnenweise Abgase in die Luft, während sie unter Unterführungen von seit Jahrzehnten bestehenden, stillgelegten S-Bahn-Trassen hindurchtöffeln.

Jetzt, wo Straßensperrungen wegen zu hoher Stickoxid- oder Kohlendioxidbelastung anstehen – Stichwörter Feinstaub und Diesel – wird vielleicht die Verwaltung aufwachen und die Schnellbahnlinien reaktivieren

Für Autos und Lkw blieb die Trasse Anhalter Bahnhof – Wilhelmstraße – Kochstraße – Oranienstraße sowie der Weg entlang des Kanals, ab Gitschiner Straße bis Schlesisches Tor entlang der Hochbahn bis zur Spree, wo wieder die Mauer wartete mit einer Brücke, die kaum überbrückte und nur für bestimmte Personengruppen und nur zu Fuß als Grenzübergang missbraucht wurde.

Der Mehringplatz am ehemaligen Halleschen Tor, Ersatzwohnungsbau auf einer riesigen zerbombten Fläche

Der kreisrunde Mehringplatz wurde in zwei Ringen dreigeschossig umbaut, zur lauten Durchgangsstraße hin zum zudem trennenden Kanal halb abgeschottet.

Neuberliner suchten das im Sprachgebrauch überlebende Hallesche Tor vergebens. Halle/ Saale, das südlich weiterexistierte, erreichte man nicht auf diesem Weg über Mehringdamm, Tempelhofer und Mariendorfer. Halle lag sowieso in einer anderen Welt. Genau wie Cottbus/ Chotbuze im Spreewald, so dass niemand frug, warum man das Kottbusser Tor mit „K“schreibt.

Die im Erdgeschoss durchlässigen, weil nicht bebauten Ringe waren mit Läden versehen, von denen einige bis heute bei veränderten Besitzern geöffnet haben. Einkaufsgelegenheiten für umliegende Hochhäuser mit Wohnungen schönen Zuschnitts. Doch ist es heutzutage hier recht ruhig, um nicht zu sagen idyllisch, wenn nicht Verkehrslärm und Martinhorn von Süden herandringen. Man ersehnt sich schon die Zeit einer mehrheitlichen Elektroautomobilität.

Ein möglicherweise vorher leerstehendes Ladengeschäft dient vielen gemeinschaftlichen Zwecken und steht tagsüber leer beziehungsweise ist geschlossen.

Brüche/ Aufbrüche – konkret als Lesung und Dichtungswerk

Unbeeindruckt vom unweit brodelnden Drumherum mit Deutschem und Europäischem Patentamt und SPD-Zentrale mit Photoausstellungen wir „World press photo“ werden hier Gedichte rezitiert.
am 3.7.2018 von Katrin Bosshard, Annette John, Anne Lourquet, Wulfhild Sydow, Rosemarie Wehrkamp, Sabine Wilde; sowie Franz Joseph Hödl und Michael Kreutzer.

Hier Ladies first und nach Nachnamen sortiert. Auf dem Plakat originell alphabetisch nach den Vornamen.

Statt Singer-Songwriter Poets-Vorträger.

Dazu trotzdem Musik. Ein Mini-Konzert? Matthias Tondorf „auf seiner leisen Gitarre“. Tondorf – ein Künstlername? Ein Pseudonym? (Menschen, die Matthias heißen, können gut Musik machen.)

Hier werden auch leise Töne gehört. Kraftfahrzeuge dringen nur in Ausnahmefällen und mit Sondergenehmigung in diese Oase und Fußgängerzone vor.
Tagsüber übte am Dienstag am Mehringplatz versunken ein Gitarrist vor sich hin.

Dichten, denken und musizieren. Frei nach dem leichtveränderten Motto: ‚friedliche Lieder, hier lass durch ruhig nieder‘ kann es so weitergehen. Brüche/ Aufbrüche gibt es immer wieder.

Professor Bernd Senf rät zur Veränderung, aber einer behutsamen.

Zu abrupt und gewaltvoll waren die Brüche/ Aufbrüche des 20. Jahrhunderts.
Ein Deutschland aufgedrängter Weltkrieg, der durch blauäugige Bündnistreue entstand. Brüche/ Aufbrüche. Vom Kaiserreich zur Republik. Von der Republik zum Nationalsozialismus. zum Zweiten Weltkrieg. Brüche/ Aufbrüche zum Ende des Deutschen Reiches. Fremdherrschaft. Militärherrschaft. Zonen/ Sektoren. Republiken, Teilung, Vertreibung, „Dreigeteilt? Niemals!“ 17. Juni 1953 und 13. August 1961, Mauerfall, Wiedervereinigung, Als Folge Schengen und Ende der D-Mark. 11. September. Finanzkrise. Global warming. Nullzinspolitik. Brüche/ Aufbrüche

Und heute beginnt das morgen.

Brüche/ Aufbrüche
Lesung
Kreuzberger Dichtungswerk (KDW)
sowie KDW-Fortsetzungsroman; 3. Kapitel (A. John)
Dienstag, 3.7.2018, 19 Uhr, Kiezstube, Mehringplatz 7, 10969 Berlin. Eintritt frei.

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