Wir kriegen mehr/ Die Welt ist klein/ Nicht genug. Was uns nicht umbringt: Der neue Film von Sandra Nettelbeck – Jahrgangsbester?

Daumen hoch! Filmplakat WAS UNS NICHT UMBRINGT am Kinostarttag 15.11.2018 im Kino der Hackeschen Höfe in Berlin-Mitte. Film von Sandra Nettelbeck. © Foto/BU: Andreas Hagemoser, 2018

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Die Welt ist klein, so mag es sein. Was uns nicht umbringt, macht uns … wie? Sandra Nettelbeck, nach der der Nettelbeckplatz in Berlin-Wedding am gleichnamigen S-Bahnhof nicht benannt ist, hat einen Film gemacht, den man nicht besser machen kann. Man könnte ihn nicht besser machen, Sandra Nettelbeck auch nicht.

Warum dann ein Titel mit einem „nicht“? Ginge es nicht auch anders? Und ist „was uns umbringt“ für unser Unterbewusstsein nicht zu brutal, zu direkt, nicht diskret genug? Nein; auch der Titel ist gut. Krieg tötet, Krankheiten, Unfälle und Gram, die in die Krankheit führt. Von Menschen, die sich selbst töten, ist hier glücklicherweise nicht die Rede; also gibt es auch keine versteckte Werbung für Wunsch-Euthanasie-Projekte in Belgien oder eine Entlastung der Rentenkasse. Nein, die Angelpunkte des Films sind die Praxis eines Psychologen, Max Lange (August Zirner) und ein Bestattungsinstitut. Das ist gut. Nicht verfehlt und gut gewählt. Eine Praxis mit einer Couch schafft eine entspannte Atmosphäre und ist obendrein der perfekte Treffpunkt für Figuren, die sich sonst vielleicht nicht begegnet wären. Nicht nur, dass sich Psychologen und Psychotherapeuten in ihre Patienten verlieben können. Soll ja mal vorkommen.

Unterschiedlichste Berufsgruppen, auch die, die vielleicht nicht zur Ober- und Mittelklasse gehören, sitzen auf dem selben Sofa. Die Menschen verbindet, dass sie nicht glücklich sind. Sie haben keine Partner und sind deswegen unglücklich? Eher nein. Die Realität ist anders und wird von Sandra Nettelbeck so perfekt gespiegelt, dass man es nicht merkt. So soll es sein, trotz der vielen fast unglaublichen Zufälle, Koinzidenzen und Synchronizitäten, wie es C.G. Jung sagen würde, wirkt dieser Film nie überkonstruiert. Die Figuren sind lebensnah und liebenswürdig. Der Versuchung, alle und jeden zu verkuppeln, so wie ein Sonntag-Abend-Fernsehfilm im ZDF, widersteht Nettelbeck nicht nur, sie ist nie in Versuchung gekommen.

Sandra Nettelbeck schrieb Drehbuch und führte Regie in Personalunion für: Was uns nicht umbringt

Sie ist die Filmemacherin. Dazu reicht es aus, Regisseurin zu sein. Sie schrieb aber auch das Drehbuch und wer den Film anschaut, wird verstehen, warum diese Einheit notwendig war. Nettelbecks Drehbuch ist wunderbar und ihre Regie stellte sicher, dass es auch realisiert wurde. Nicht nach den Buchstaben des Gesetzes (des Skriptes), sondern dem Geiste nach.

Was uns nicht umbringt hätte auch heißen können: Die Welt ist klein

Die Welt ist klein, q.e.d. Doch manche, die sich begegnen, verstehen sich auch noch. So bemerken der Bestatter und der Psychotherapeut, wie ähnlich sie darin sind, das Leid der anderen teilen zu müssen. Beide haben aber in ihrem Metier auch die Chance, anderen zu helfen.

Die Begegnung kommt nur zustande, weil der Bestatter einmal nicht mit seiner Schwester und Geschäftspartnerin auf der Couch sitzt. Die Hypochonderin ist gerade beim Arzt. Lang lachen die beiden Leidenden.

Einer der tollen Filme der Zeit ist „Gegen den Strom“. Was uns nicht umbringt anzuschauen, ist ebenfalls ein großer Gewinn.

Dia Dialoge sind einfach toll, genial, passend. Selten einmal, das ein ähnliches Strickmuster zu erkennen ist und selbst dann ist es die hohe Qualität und der feine Humor, die durch scheinen.

Auch die Musik von Bertelmann passt wunderbar.

Zur Ausmalung der Figuren – sogar der Toten – wurde an nichts gespart. Ein in Syrien kriegsbedingt umgekommener Photograph wird nicht mit irgendwelchen Photos aus zweiter Hand garniert, sondern mit den entlehnten Werken Fabio Bucciarellis aus dem Bildband „The dream“.

Die Kameraarbeit ist genuin, experimentiert in Details und ist auf den Punkt, trifft den Nagel auf den Kopf, eine Bildsprache, die den Namen verdient.

Die DNS lässt uns leben

Der einzige Fehler, der in diesem Film auszumachen ist, ist die falsche Abkürzung von „Desoxyribonukleinsäure“. Aus dieser Säure besteht bekanntlich unsere Erbsubstanz. In Form einer Doppelhelix in jeder Zelle. Aufgrund der Silben-Anfangsbuchstaben innerhalb des Wortes wird die Säure „DNS“ abgekürzt. Im Film spricht die Hauptfigur jedoch von DNA. Das ist die englische Abkürzung für DN-Acid und spricht sich „di-enn-ej!“. Es „Dee-enn-Aa“ auszusprechen ist eine unzulässige Eindeutschung. Ein Fehler übrigens, der häufig und wohl meist unbewusst gemacht wird.

Fehler in der DNS

Sie werden mir beipflichten, dass dieser kleine, aber unangenehme Fehler, der einreißt und die richtige Abkürzung DNS sogar aus dem Sprachgebrauch zu verdrängen droht, hinsichtlich der Bewertung des Films – und nur in dieser Hinsicht – weniger als eine Lappalie ist.

5 Sterne von 5, wenn wir ein solches System hätten. Summa cum laude. Möge Sandra Nettelbeck viele Filmpreise gewinnen!

Der Spielfim: Was uns nicht umbringt

Deutscher Kinostart am 15. November 2018.

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