„Your Passion is pure joy to me“ von Stijn Celis und „Half Life“ von Sharon Eyal und Gai Behar in der Komischen Oper in Berlin

Szene aus "Half Life" von Sharon Eyal und Gai Behar. © Foto: Jubal Battisti

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Der Premierenabend wird mit dem Gastspiel „Your Passion is pure joy to me“ des belgischen, international führenden Choreographen Stijn Celis eröffnet, der Ballettdirektor am Saarländischen Staatstheater ist. Der Titel seiner Choreographie, die ihre Uraufführung 2009 in Göteborg hatte, bezieht sich auf einen Choral von J.S. Bach, wird jedoch von romantisch-dramatischen Liedern von „Nick Cave and The Bad Seeds“ untermalt, die sehr zu Herzen gehen. Seine Lieder kreisen um das Thema Gläubigkeit und wie man trotz quälender Erinnerungen überleben kann, ohne zu zerbrechen.

Die Tänzer*innen des Staatsballetts Berlin, Jenna Fakhoury, Sarah Hees-Hochster, Ross Martinson, Johnny McMillan, Eoin Robinson, Lucio Vidal und Xenia Wiest, agieren auf nackter, schwarzer Theaterbühne. In legerer Alltagskleidung zeigen sie individuelle und eigenständige Ausdrucksformen in der Balance zwischen Leid und Trost, zwischen Schmerz und Heilung. Im Kontrast zu Caves Musik steht die Musik der Avantgardekünstler Pierre Boulez und Penderecki, die in der Mitte des Tanzwerks einen Kontrapunkt setzen mit kakophonischen Klangwelten. Am Ende versöhnt klanglich ein Klavierstück des kubanischen Jazzpianisten Gonzalo Rubalcaba – leichtfüßig und elegant von den TänzerInnen wiedergegeben – welch ein Hochgenuss.

Das nach der Pause gezeigte Tanzstück „Half Live“ von Sharon Eyal und Gai Behar mit der Musik von Ori Lichtik sprengt alles bisher Gesehene an Ballettchoreographien! Uraufgeführt wurde es am 11.2.2017 vom Königlich Schwedischen Ballett Stockholm.
Sharon Eyal, eine israelische Choreographin, ist eine der herausragenden „Player“ der zeitgenössischen Tanz-Szene. Ihre Kreation ist von der legendären Batsheva Dance Company geprägt. Von den Tänzer*innen des Staatsballetts Berlin Sarah Brodbeck, Filipa Cavaco, Weronika Frodyma, Gregor Glocke, Mari Kawanishi, Olaf Kollmannsperger, Konstantin Lorenz, Ross Martinson, Johnny McMillan, Ilenia Montagnoli, Danielle Muir, Daniel Norgren-Jensen und Federico Spallitta wird in atemberaubender Art und Weise – atemberaubend auch für die Zuschauer – das Maximum an tänzerischem Können bis fast zur Erschöpfung abverlangt.

Die sehr laute, wuchtige technobeat-artige Musik von Ori Lichtik wummert bis auf den Solarplexus und erzeugt mit ihrem Spannungsbogen einen magnetisierenden, hypnotisierenden, tranceähnlichen Zustand zu dem die Tanzer*innen in Nude-Look-Kostümen (hautfarbenen Höschen und Bustiers) wie Androiden oder Humanoiden-Roboter aus einem Science-Fiction-Film, von einem anderen Stern entsprungen die Erde erkundend, auf nackter Theaterbühne mit nebeligem Hintergrund stakkatoartig die meist immergleichen Bewegungen wie in Zeitlupe wiederholen. Assoziationen an „Wir sind die Roboter“ von „Kraftwerk“ kommen auf! Ihre Körper glänzen vom Schweiß während ihrer athletisch-ästhetischen Performance. Im Mittelpunkt stehen anfangs ein Mann und eine Frau – Adam und Eva? Sie wiederholen minutenlang zur Trancemusik die gleichen Bewegungen – die Trance überträgt sich auf die Zuschauer*innen. In Hintergrund, in extremem Zeitlupentempo kommt eine Gruppe herbei, die die beiden im Verlauf der Choreographie wie in Schwarmintelligenz umgibt mit diesen ständig roboterähnlichen Bewegungen, teilweise im Herzschlagrhythmus kollektiv zuckend, auseinanderstiebend, unterbrochen von Spitzentanz-Passagen comme d’habitude. Es wirkt, als ob das kollektive Unterbewußtsein Adam und Eva umtanzt. Mit amimischen Gesichtern, die Haare straff gebunden, schauen die Tänzer*innen teilweise fordernd und herausfordernd die Zuschauer*innen an, was beklemmend schön wirkt. Ein Schrei formiert sich auf dem Gesicht eines Tänzers – wie bei Edward Munchs Gemälde „Der Schrei“. Arme ragen wogend aus der wabernden, zuckenden Masse, zeigen nach oben, weisen auf irgendwas (Bedrohliches?), drehen die Köpfe gleichzeitig (nach Was?) – die Musik wird fauchend wie ein abfahrender Zug – schlimme Assoziationen kommen auf! Ist es zu weit gegriffen, an Traumaverarbeitung zu denken? Immerhin ist es ein israelisches Stück.

Oder ist es das ewig menschliche Drama über den „Ernst des Seins“? In jedem Fall ist es ein Stück, dass zum tieferen Nachdenken anregt.

Im Schlussbild ist wieder die Frau, Eva (?), das ewig Weibliche (?) das Zentrum, um das alles wie in Derwischtänzen kreist. Sie wiederholt die monotonen, rhythmisch-zierlichen Bewegungen der Anfangssequenz, während die Gruppe im Hintergrund zu immer ekstatisch werdender Musik ihren athletisch-ästhetischen Tanz in wildem Reigen durchführt und immer wieder dramatisch-ergreifend wirkende Gruppen bildet, die wie eine Metapher wirken für (?). Sie muten zum Beispiel an wie die altgriechische Skulptur „Laokoon-Gruppe“, die den Todeskampf Laokoons und seiner Söhne zeigt. Das Choreographie-Bild erinnert auch an Auguste Rodin’s Plastik „Die Bürger von Calais“, angesehene Bürger, die sich freiwillig opfern wollten, um mit ihrem Leben die Vernichtung der Stadt zu verhindern. Die Choreographie apelliert an Urinstinkte von Angst, Furcht, Gruppe, Individuum und Magie! Sie ist eine einzige Fragestellung an die Zuschauer*innen.

Es ist eine unglaublich brilliante, mitreißende Präsentation tänzerischen und choreographischen Könnens voller Power und Dynamik!

Es gab tosenden, frenetischen, nicht enden wollenden Schlussapplaus.

Anzeige

Vorheriger ArtikelFamilienfest im Erlebnisland Mathematik in den Technischen Sammlungen Dresden
Nächster ArtikelZum Musikfest Berlin 2018: Donald Runnicles dirigiert Bernd Alois Zimmermann und Richard Wagner