Zu dünn! Oder: Iss, Farida, iss! Der Film FLESH OUT im Berlinale-Panorama macht Schluss mit dem Schlankheitswahn

Joanna Reposi Garibaldi, eine Panorama-Kollegin Michela Occhipintis und Regisseurin von "Lemebel", wäre definitiv zu dünn für den Job. Anders gesagt: Mancherorts nicht korpulent genug, um verheiratet zu werden. Ein Bär, so er denn weiblich wär', hätte deutlich bessere Chancen. © Foto/BU: Andreas Hagemoser, Ort und Datum der Aufnahme: Berlin, 15.2.2019

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Wer nicht zu seinem Gewicht steht, ist selber schuld. Kokettieren jedenfalls hat jetzt ein Ende. „Ach, ich bin so dick – niemand mag mich“ heischt nach „So dick bist du doch gar nicht!“. Es ist nicht nur ein ‚Fishing for compliments‘, also ein die-Angel-Auswerfen nach unverdienten Streicheleinheiten, sondern nicht im Geringsten abgenabelt von der Jugend- und Schlankheitsdiktatur der Werbewirtschaft US-amerikanischer Prägung, die bereitwillig von den Vasallen in Europa und bedingt auch in China übernommen wurde. Flesh Out! „Überall auf der Welt!“ Wer hat das gesagt? Schlecht recherchiert oder keine Ahnung! Während ganz Gallien vom Römischen Reich besiegt wurde, wehrt sich … ein kleines Dorf … seit Jahrzehnten … mittels eines Zaubertranks. Die ganze Welt? Niemand hat an Afrika gedacht! Und wie immer gilt: Augen auf beim Alles-in-einen-Topf-schmeißen.

Geographie zurechtgerückt – die Sache mit den Inseln

Afrika – das Land, von dem wir keine Ahnung haben. Erstens mal ist es kein Land, sondern ein Kontinent, sogar größer als Europa, das manche nur als westliche Halbinsel Eurasiens sehen. Bei den Ausmaßen Sibiriens, das zwar politisch zu Rußland gehört, geographisch aber Nordasien bildet, ist Europa wirklich auch nicht viel mehr als ein anderes Kamtschatka und Großbritannien im Vergleich zu Sachalin so winzig wie Helgoland. England, wie manche fälschlich die Insel in der Nordsee nennen, die immerhin ein bisschen größer als Irland ist, also nichts weiter als eine undeutende, vorgelagerte Insel vor dem eurasiatischen Kontinent? Der auch China und Indien sein eigen nennt? Böse Zungen und Außerirdische, die neutral von außen oder oben auf unseren Erdball schauen, hätten da im Prinzip gar nicht so Unrecht.

Spanien liegt nicht nur in Europa

Eine Halbinsel der Halbinsel Europa, die Iberische nämlich, dehnt sich mit Spanien auf den afrikanischen Kontinent aus. In Ceuta und Melilla stehen die Zäune, die lange Schlangen von Afrikanern regelmäßig organisiert und massenhaft zu erklimmen versuchen – die Berlinale zeigte es in entsprechenden Dokumentarfilmen. „Wenn du wegschaust – siehst du nicht!“ lautet ein Lied der Different Voices of Berlin. „Wer nicht fragt, bleibt dumm!“ der Refrain des Titelsongs einer bekannten Kindersendung.

Gerade auch für die Berliner, von denen manche so reiseunwillig sind wie gewisse US-Amerikaner, ist oder wäre die Berlinale eine unverschämt naheliegende, einmalige Bildungsmöglichkeit. Wer die verstreichen lässt … „… ist selber schuld. Haben wir begriffen. – Und was gibt‘s da nun so Spannendes zu lernen?“ Zum Beispiel, dass viele in Afrika viel zu dünn sind, um geheiratet zu werden.

Es ist nur eine Frage des örtlich geltenden Schönheitsideals, in dem man unreflektiert papageienhaft mitschwimmen kann.

Geh doch rüber! Für Jammerer gibt es eine Alternative: Mauretanien

In der Bundesrepublik der 70er Jahre hat man Linken, Gewerkschaftern und Sozis, die trotz des Lebens wie die Made im Speck zuviel zu meckern hatten, manchmal gesagt: „Dann geh‘ doch ‘rüber!“ Gemeint war die DDR, für die man als Deutscher genausowenig ein Visum brauchte (wenn man denn dortgeblieben wäre) wie DDR-Bürger in der BRD. Der Hintergedanke: ‚Das machste ja doch nicht, und dann wirste schon sehen, wie schön es hier ist und wie gut du‘s hier hast!‘ ‚Da kannste det Maul nämlich nich so weit uffreißen – und übahaupt!‘

Wohin kann man die ewigen Jammerer beiderlei Geschlechts schicken, die sich selbst zum Opfer machen und schwächen? Die unabhängig von den Fakten ständig die Schallplatte anhaben „Ich bin zu dick?“ Zum Beispiel nach Mauretanien in Westafrika.

Mauren

In Spanien steht bis heute viel maurische Architektur. Auch in der Hauptstadt Madrid gibt es viele Häuser im maurischen Stil. Die Mauren, das waren die Araber und Moslems, die bis sich 1492 im Süden des Landes festgesetzt hatten. 1492 wurde nicht nur Amerika „entdeckt“, sondern in der „Reconquista“ auch die Araber – Mauren – von der Iberischen Halbinsel vertrieben. Granada, Alhambra, Sevilla sind die Stichworte. Übrigens wurden auch die Juden unsanft herauskomplementiert und suchten, ladinisch sprechend, unter anderem im Osmanischen Reich Zuflucht.

Die Mauren, die nicht erschlagen wurden, gingen über die Straße von Gibraltar zurück nach Afrika. Dort folgten dann die finster-brutalen Kapitel von Entführung, Sklaverei und Kolonialismus. Die Bevölkerung Kubas, Brasiliens und der USA wurde neu gemischt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, der Großbritannien und Frankreich geschwächt hatte, stand der Anfang vom Ende des Kolonialismus. In Indien, Arabien und Afrika.

Mauretanien

Einer des vielen in den 50er und vor allem 60er Jahren selbstständig gewordenen Staaten heißt Mauretanien. 1957 waren neun Zehntel der Bevölkerung Nomaden. 1960 von der Französischen Republik losgesagt. Die Franzosen trennten sich leichter von Mauretanien als von Algerien, nicht nur, weil Algerien größer ist, näher und mehr Öl fördert.

Trotzdem ist Mauretanien riesig: die alte Bundesrepublik passte viermal hinein, das neue, jetzige Deutschland immerhin noch fast dreimal. In Zahlen: Über eine Million Quadratkilometer. Mauretanien bedeckt das Westende der Sahara und hat eine Atlantikküste.

Außerdem gibt es hier das bis heute unerklärte Weltwunder, das Auge Afrikas, die Richat-Struktur.

Im Lande wohnen etwa soviele Menschen wie in Berlin während der Grünen Woche oder IFA. Gut vier Millionen.

Das Land wurde ausführlich in dem Dokumentarfilm „7915 km“ (2009, mit Mali und Westsahara) und „Wer schön sein will, muss reisen“ (2013) behandelt.

Die Staatsform ist eine Islamische Republik. Das müsste man als Schönheitsflüchtling schon schlucken.

Berlinale-Film Flesh out

Apropos Schönheitsflüchtling, apropos schlucken: Von Beginn an sehen wir Farida, ein junge schöne Mauretanierin, beim Essen. Die verschleierte Frau kommt nicht viel raus und sieht viel fern. Trotzdem ist sie nicht dick genug.

Das stellt sich spätestens heraus, als der Mann mit der Waage kommt.

Doch eins nach dem anderen. Farida soll heiraten, verheiratet werden. In drei Monaten soll es soweit sein. Hurra. Doch erstmal wiege, wer sich ewig bindet. Heiratsvermittler übernehmen den Job der Anbahnung. Den Zukünftigen, der selbst eine Sonnenbrille trägt und ziemlich verschleiert ist – Haut kann man jedenfalls nicht erkennen – kriegt Farida nicht zu sehen, und auch von weitem nur, weil sie heimlich durch zwei Fenster gespäht hat.

Als die Familien sich einig sind, kommt der Mann mit der Waage. Mindestens eine weitere Frau muss natürlich dabei sein. Die kleine Farida wiegt 77-78 Kilogramm. Viel zu wenig. Das ist klar und gibt die Mutter zu. Doch das wird schon, beteuert sie. Farida erhält jetzt immer zwei Schalen Essen.

Wer immer noch gedacht hatte, dass in Afrika die Kinder hungern und es kaum Autos oder Handys gäbe, wird endlich eines besseren belehrt.

6 Uhr: Aufstehen, essen!

Mitten in der Nacht wird sie geweckt. Sie soll essen, hat aber keinen Appetit. „Mama, es ist 6 Uhr morgens“! Draußen ist es noch dunkel. Egal, Luke auf, rein damit.

Eine zusätzliche Mahlzeit. Flesh out!

Filmisch verstärkt sich der Eindruck der Quälerei des Essens noch dadurch, dass nicht mit Besteck, sondern mit den Fingern gegessen wird.

Zwischendurch sehen wir Mutter und Tochter beim Einkaufen. In der halalen Schlachterei werden besonders fette Sorten Kamelfleisch ausgesucht. Flesh out! Inschallah kommt es zu einer baldigen Gewichtszunahme, das wünschen sich alle. Doch Farida fühlt sich schlecht.

Das örtliche Schönheitsideal ist eine richtige extreme Orangenhaut. Spannungsfugen als Gütesiegel. Wenn die Haut es kaum noch schafft, den Körper zu Umspannen, dann ist es genau richtig. Flesh out.

Die Hauptfigur des Filmes hatte nicht gegen ihre Religion opponiert. Auch verheiraten hätte sie sich lassen. Aber das tägliche Mästen?

Das bringt das Fass zum Überlaufen!

Farida wird am Ende wohl ein Flüchtling. Nicht nach Europa! Mal langsam. Nicht jeder Afrikaner ist ein Selbstmörder oder Wirtschaftsflüchtling, der gerne in Lagern vergammelt und eher überlebt als lebt.

Die „liberale Weltstadt“ alias Millionenmoloch Kairo ist das Ziel.

Hier könnte sie vielleicht auch einen Mann finden, der sie so mag, wie sie ist – und nicht, wie sie isst.

Filmtitel: Flesh out

Flesh out – Italien/ Frankreich; Ein Film von Michela Occhipinti

Jahr: 2019

Sektion: Panorama der Berlinale

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