Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). In Wertheim beginnt es oder endet es, je nach Blickwinkel: das etwa 100 Kilometer lange Taubertal. Schon lange wird es als das „liebliche Taubertal“ beschrieben. Man kann hier Kanu fahren, wandern und große Weine probieren. Ein wunderschöner Radweg schlängelt sich entlang des Tauber-Flüsschens bis nach Rothenburg. Und der bekannte Satz des Historikers Wilhelm Heinrich Riehl von 1865, er gilt noch immer: „Ein Gang durch das Taubertal ist ein Gang durch die deutsche Geschichte.“

Man passiert das ehemalige Zisterzienserkloster Bronnbach, Tauberbischofsheim und die Kurstadt Bad Mergentheim. In deren Ortsteil Stuppach ist die „Stuppacher Madonna“ zu bewundern, ein Marienbild von Matthias Grünewald, entstanden um 1516. In Weikersheim beeindruckt das Renaissance-Schloss mit seinem prächtigen Schlosspark. Der touristische Höhepunkt Creglingens liegt etwa 1,5 km außerhalb: die Herrgottskirche mit dem weltberühmten Marienaltar von Tilman Riemenschneider.

Rothenburg. © Foto/ BU: Marc Peschke

Und dann, endlich, Rothenburg ob der Tauber. Der Name klingt, bis heute. Aber es ist schwierig, über die Stadt zu schreiben. Denn so viel wurde schon über sie gesagt. „Eine Stadt, deren Gesicht auf eine Postkarte gepresst wurde“, so Hans Dieter Schmidt in seinem sehr lesenswerten Taubertal-Buch „Melusine und schwarze Wasser“. Oder der bedeutende Kunsthistoriker Georg Dehio: Die Stadt sei „als Ganzes ein Kunstwerk“ schreibt er. Und Herbert Schindler in seinem Buch über die Romantische Straße, an der Rothenburg liegt: Man fände hier „reines, großes Mittelalter“. Oder, noch besser, Rothenburg, das sei schlichtweg die „Lieblingsstadt der Welt“.

Was ist Rothenburg? Die Fakten: Die ehemals Freie Reichsstadt, seit 1802 zum Kurfürstentum Bayern gehörend, heute mittelfränkisch, ist mit ihren gerade mal 11.000 Einwohnern ein internationaler touristischer Magnet. Doch in der Nebensaison oder am späteren Abend ist die Altstadt keinesfalls überlaufen. Wer nach Rothenburg ob der Tauber kommt, der findet im Gewirr der kleinen Gassen und Sträßchen eine ganze Vielzahl von kunsthistorisch bedeutsamen Schätzen. Im Jahr 2024 feiert man mit vielen Veranstaltungen die Ernennung zur freien Reichsstadt vor 750 Jahren. Dieses Selbstbewusstsein der bürgerlichen Stadtkultur ist immer noch ganz gegenwärtig.

Rothenburg, Markusturm. © Foto/ BU: Marc Peschke
Rothenburg, Marktplatz. © Foto/ BU: Marc Peschke

Unbedingt sollte man den Rathausturm erklimmen, was wegen der Enge, je höher man kommt, gar nicht so einfach ist. Doch hat man es geschafft, dann wird man belohnt: Die Aussicht auf die mittelalterliche Altstadt mit ihrer Dachlandschaft, den vielen verborgenen Gärten und die etwa fünf Kilometer lange, in großen Teilen begehbare Stadtmauer mit ihren 42 Türmen ist in diesen Dimensionen wirklich atemberaubend.

Einst hat der Bauernführer Florian Geyer in Rothenburg die Artikel der aufständischen Bauern verlesen. Und hier führt noch heute der Nachtwächter durch die malerischen Gassen. Wir folgen ihm, diesem kuriosen Nachtwächter-Schauspieler mit Schalk im Nacken, der uns aus der Geschichte der Stadt erzählt: Man blickt auf dunkle Türme und Zinnen und erfährt viel über Gosse und Pest. Jetzt ist es still geworden. Nun hat sich die Stadt in eine reine Spitzweg-Idylle verwandelt. Nach der Führung trinkt man vielleicht noch einen Dämmerschoppen, in der Weinstube „Löchle“ etwa oder in der Weinstube „Zum Pulverer“, dann geht es, rechtschaffend müde, ins Bett. Man träumt zwischen diesen Mauern, zwischen den Basteien und Vorwerken, den alten Traum des Mittelalters. Man ist hier in einer anderen Zeit, wie es Horst Krüger in einem seiner Reisetexte geschrieben hat: „Es ist ein uralter Zauber, ein Traum steigt auf, dunkel und schön. Eine andere Epoche beginnt, Zeit der Zünfte und Ritter. Wann war das denn?“ 

Das historische Festspiel „Der Meistertrunk“, das seit 1881 alljährlich aufgeführt wird, widmet sich einer dunklen Zeitspanne: Der Legende nach sollte der Feldherr Tilly, nachdem er im Dreißigjährigen Krieg die Stadt nach heftigem Widerstand eingenommen hat, durch einen Willkommenstrunk in einem riesigen Weinkelch milde gestimmt werden. Er soll versprochen haben, die Stadtoberhäupter am Leben zu lassen, wenn es einem von ihnen gelänge, die 3 ¼ Liter Wein in einem Zug auszutrinken, was Altbürgermeister und Wirtssohn Georg Nusch tatsächlich schaffte. Zur Erinnerung öffnen sich heute am Marktplatz zu jeder vollen Stunde zwei Fenster, hinter denen Tilly- und Nusch-Figuren erscheinen.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg fiel Rothenburg in einen langen Dornröschenschlaf. Es fehlte an Geld, die Stadt zu modernisieren. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde der mittelalterliche Ort mit seiner intakten Altstadt und der erhaltenen Stadtbefestigung durch die Romantiker wiederentdeckt. Die Maler kamen zuhauf, um die Stadtmotive zu verewigen, unter ihnen Ludwig Richter und Carl Spitzweg, später auch Wassily Kandinsky. Und die Literaten kamen auch: Heinrich Riehl, Leonhard Frank, Eduard Mörike und Erich Maria Remarque. Dadurch wurde der beinahe vergessene Ort weltbekannt.

Heute präsentiert sich Rothenburg als eine Stadt der Baukunst, aber auch der klassischen Musik. An der großen Rieger-Orgel der gotischen Hauptkirche St. Jakob gastieren Weltklasse-Solisten. Berühmt ist dieses Gotteshaus vor allem auch für den Heilig-Blut-Alter von Tilman Riemenschneider, entstanden 1499 bis 1505. Der Künstler will hier etwas darstellen, was man aus heutiger Sicht kaum mehr begreifen kann: das Geheimnis der Eucharistie.

Auch bedeutende Museen gibt es hier, wie das Mittelalterliche Kriminalmuseum als das wichtigste Rechtskunde- und Rechtsgeschichtemuseum Deutschlands. Vorsicht: Manche der Räume stellen Grausames unvermittelt dar. Es wird die Strafrechtsgeschichte beleuchtet, die brutale Hexenverfolgung. Es ist ein Museum der menschlichen Unmenschlichkeit, wie Hans Dieter Schmidt geschrieben hat, ein „Panorama der Ausgeburten menschlicher Strafphantasien“.

Bacchus Rothenburg Museum. © Foto/ BU: Marc Peschke
Bacchus Rothenburg Museum. © Foto/ BU: Marc Peschke

Im „Rothenburg-Museum“ in einem einstigen Klostergebäude ist die Geschichte der Stadt zu erleben, vom frühen Mittelalter bis heute. Bis zum 31. Dezember 2024 ist das Werk der Flensburger Künstlerin Elise Mahler zu sehen, die sich 1895 in Rothenburg niedergelassen hat. Zusammen mit der Wienerin Maria Ressel gründete sie im Spitalbereiterhaus eine Malschule für Frauen, die bald regen Zuspruch fand. Von den männlichen Kollegen belächelt, als „Malweiber“ verunglimpft, setzten sich die beiden Künstlerinnen dennoch durch. Die Ausstellung, die Mahler zu ihrem 100. Todesjahr gewidmet ist, erinnert an eine wichtige Position der Kunstgeschichte Rothenburgs. Noch bis Ende 2025 wird auch die Schau „Die Waffen einer Reichsstadt“ präsentiert: Zu sehen sind historische Waffen aus der Sammlung Baumann in einer neuen Präsentation im Dormitorium.

Nur einige Gassen weiter hat das private Grafikmuseum Rothenburg im Dürerhaus in der Georgengasse 15 seinen Sitz. Meistergrafik von Albrecht Dürer bis heute wird dort präsentiert. Originalradierungen, die der Künstler Ingo Domdey über viele Jahre zusammengetragen hat: Arbeiten aus fünf Jahrhunderten mit einem Schwerpunkt auf moderner Kunst wie etwa jener von Karin Kneffel, Alfred Hrdlicka, Horst Janssen oder Gerhard Richter.

Malerisch ist es auch unten, im Taubertal, wo man in der idyllisch gelegenen Pension „Fuchsmühle“ direkt neben dem Toppler-Schlösschen, dem spätmittelalterlichen Sommer-Wohnturm des Rothenburger Bürgermeisters Heinrich Toppler, Quartier beziehen kann. Toppler war von 1373 bis 1407 Bürgermeister der freien Reichsstadt. 1408 wurde er als angeblicher Hochverräter verhaftet. Er starb im Rathausverlies. Das Schlösschen kann heute am Wochenende mit einer Führung besichtigt werden. 15 Minuten recht steilen Fußwegs sind es von hier nach oben in die Rothenburger Altstadt. Doch bleiben wir erst einmal hier unten, im Tal. Wir besuchen das Wildbad.

Wildbad. © Foto/ BU: Marc Peschke
Wildbad. © Foto/ BU: Marc Peschke

Das Wildbad Rothenburg, eine evangelische Tagesstätte, zeigt derzeit die Schau „inderSchwebe“ der Künstlerin Brigitte Schwacke. Leider wird diese Ausstellung eine der letzten in dem ehemaligen Kurhotel des 19. Jahrhunderts sein, dessen malerischer Arkadengang direkt an der Tauber liegt. Denn der Landeskirchenrat hat beschlossen, das Wildbad Rothenburg demnächst zu schließen und die Immobilie zu verwerten. Die Kirche muss sparen: Ab 2026 stehen keine Gelder mehr für das Haus zur Verfügung.

Wildbad. © Foto/ BU: Marc Peschke

Umso schöner, jetzt noch einmal die Arbeiten hier, an diesem so besonderen Ort zu bewundern. Ob Skulptur oder dreidimensionale Zeichnung, Objekt oder Installation, die Übergänge sind im Werk Schwackes stets fließend. Das alte Kurhotel mit seinen labyrinthischen Gängen, seinem Park und den vielen Kunstwerken, welche die Künstler der „art.residency wildbad“ seit 2017 hinterlassen haben: Das alles übt einen ganz besonderen Reiz aus. Dieses Ensemble zu erhalten, wie auch immer, wäre von großer Wichtigkeit.

Am Abend geht es wieder nach oben. Wir schlendern durch den stillen Burggarten am Ende der Herrengasse, der auf einer schmalen Bergnase über dem Taubertal liegt. Die Blicke von dort auf die Kulisse der Stadt sind atemberaubend. Von hier aus erspähen wir auch die Weinberge zu unseren Füßen und die Kobolzeller Wallfahrtskirche vor der Doppelbogenbrücke. Wir haben herrlichen Hunger. Hervorragend speisen kann man in einigen alten, sehr traditionsreichen Gasthöfen. Wir kehren in der „Glocke“ ein, die schon 1227 urkundlich nachgewiesen wurde. Heute isst man hier in behaglicher, historischer Atmosphäre gepflegt fränkisch – vor allem die Auswahl lokaler Weine ist beeindruckend.

Dettwang. © Foto/ BU: Marc Peschke
Dettwang. © Foto/ BU: Marc Peschke
Dettwang Schwarzes Lamm. © Foto/ BU: Marc Peschke

Am nächsten Morgen spazieren wir vom Klingentor aus hinab in das kleine Dorf Dettwang zu Füßen der Reichsstadt. Die Dorfkirche, das romanische Kirchlein St. Peter und Paul, ist ein kontemplativer Ort der Stille. Auch dieses schmückt ein Altar, den Riemenschneider geschnitzt hat – von 1510 bis 1513. Zutritt hat man nur von 14 bis 16 Uhr, sonntags von 10 bis 12 Uhr. Im Winterhalbjahr sogar nur sonntags nach dem Gottesdienst von 10 bis 11 Uhr.

Taubertal. © Foto/ BU: Marc Peschke
Taubertal. © Foto/ BU: Marc Peschke
Tauber am Topplerschlösschen. © Foto/ BU: Marc Peschke

Rothenburg ist ein Traum, immer noch, auch wenn schon so viel darüber geschrieben worden ist. Wir fahren bestimmt bald wieder hierher. Nach Rothenburg, ins liebliche Taubertal.

Anzeige:

Reisen aller Art, aber nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert und mit Persönlichkeiten – auch Kultureisen durch deutsche Lande -, bietet Retroreisen an. Bei Retroreisen wird kein Etikettenschwindel betrieben, sondern die Begriffe Sustainability, Fair Travel und Slow Food werden großgeschrieben.

Anzeige

Vorheriger ArtikelEin Film mit Karl Valentin: „Im Schallplattenladen“ von Hans H. Zerlett
Nächster ArtikelEin Film mit Karl Valentin: „Im Photoatelier“ von Karl Ritter