Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). In die Eingeweide von Oberstleutnant Karl Deutinger führt die Suchaktion von zwei Bundeswehrsoldaten im Stück von Wolfram Lotz, das eigentlich ein Hörspiel ist, inspiriert von Joseph Conrad und Francis Ford Coppola. Ob dieses Werk höchst originell und politisch brisant oder eine eher harmlose Verulkung der rassistischen und kolonialistischen Klischees ist, die in den Köpfen weißer MitteleuropäerInnen spuken, darüber lässt sich streiten. Ganz sicher ist aber bei der Uraufführung am Wiener Burgtheater aus der Textvorlage etwas Sehens- und Erlebenswertes geworden, das beim Theatertreffen gebührend gefeiert wurde.
Regisseur Dusan David Parizek hat die Verfremdungen des Textes auf die Spitze getrieben, indem er die vier Männerrollen des Stücks mit hervorragenden Schauspielerinnen besetzt hat, die das absurde und bornierte Denken der westlichen Eroberer brillant veranschaulichen und entlarven.
Nichts ist wie es scheint, selbst dann nicht, wenn es auf Tatsachen fußt wie dem Prozess gegen somalische Piraten vor dem Hamburger Landgericht. Der Pirat, der auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele eine furiose Verteidigungsrede hält, ist jedoch nicht nur ein verzweifelter ehemaliger Fischer, den internationale Flotten um seinen Fang betrogen haben, er ist ein Akademiker, der mit einem Stipendium vom „Islamistischen Studienwerk Mogadischu“ erfolgreich ein Diplomstudium der Piraterie abgeschlossen hat, und er ist eine Frau, die in breitem Wienerisch bekennt, „ein schwarzer Neger aus Somalia“ zu sein, sich also einer politisch unkorrekten Wortwahl bedient, die vermuten lässt, dass er unzivilisiert und gefährlich ist.
Stefanie Reinsperger gestaltet den Prolog mitreißend. Sie versteht es, die unbequemen und erschütternden Fakten in diesem absurden Text herauszufiltern und hinter der Karikatur ein menschliches Wesen erkennbar zu machen, das sein Recht auf Leben einfordert. Später agiert Stefanie Reinsperger als eloquenter serbischer Händler, dessen Familie Opfer eines Kollateralschadens wurde, verursacht durch eine Präzisionsbombe der NATO, oder als ebenso aufreizender wie ausgebeuteter sprechender Papagei, und schließlich taucht sie als der verloren geglaubte Freund des somalischen Piraten auf und verkündet Auszüge aus der „Rede zum unmöglichen Theater“ von Wolfram Lotz wie eine neue Heilslehre.
Stefanie Reinsperger war beim Theatertreffen ebenfalls in der Burgtheater-Produktion „die unverheiratete“ zu erleben. Für einen Großteil der BesucherInnen war die ausdrucksstarke junge Komödiantin eine sichere Kandidatin für den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.
Die Reise in „Die lächerliche Finsternis“ geschieht per Bootsfahrt den Hindukusch hinauf, der, wie Oliver Pellner, Hauptfeldwebel der Bundeswehr, aufklärend mitteilt, kein Gebirge sei, sondern ein Fluss und führt in die Regenwälder Afghanistans, in denen auch Zentralafrika und der Balkan angesiedelt sind.
Catrin Striebeck nimmt männliche Haltung an, während sie sich einen Schnurrbart anklebt und sich dem Publikum als Pellner vorstellt. Obwohl erkennbar eine Frau, verkörpert Striebeck mit grandioser Perfektion diesen eitlen, schneidigen Macho, der sich selbst als Zyniker bezeichnet. Er fungiert als Erzähler, ist der Kommandeur des Suchtrupps, und nachdem er sich selbst ins rechte Licht gestellt und seine Sonnenbrille in Position gebracht hat, sorgt er hämisch grinsend dafür, dass dem Publikum die unrühmlichen Details aus dem Lebenslauf seines Begleiters bekannt werden.
Unteroffizier Stefan Dorsch (Frida-Lovisa Hamann), mit Palästinensertuch, stammt hörbar aus Sachsen-Anhalt und ist nur deshalb zur Bundeswehr gegangen, weil er nach einem abgebrochenen Studium der Sozialen Arbeit keinen anderen Job gefunden hat. Er ist ein armseliges Kerlchen, das ganz unmilitärisch mit hängenden Schultern dasteht. Offenbar ist er sehr viel mehr zu Empathie befähigt als Pellner, aber auch Dorsch fehlt es an Durchblick, und er brächte wohl nicht den Mut auf, Kritik zu äußern.
Pellner sagt einmal, im Gegensatz zu ihm sei Dorsch ein Sympathieträger. Die auf der Bühne erscheinenden Personen sind jedoch, auch wenn sie Entsetzliches und Empörendes äußern, allesamt liebenswert. Sie sind keine wirklichen Menschen, sondern abstruse Fantasiefiguren. Dennoch sind sie einer Realität nachgebildet, in der, aus ebenso abstrusen Fantasien, aus Arroganz, Macht- und Geldgier und einer gewaltigen Portion Dummheit und Ignoranz, Kriegs- und Unterdrückungsszenarien entstanden sind.
Geradewegs zum Liebhaben entzückend gestaltet Dorothee Hartinger drei außerordentlich menschenverachtende Kreaturen: Da ist der italienische Blauhelmsoldat Lodetti mit seinem niedlichen Akzent, der den Arbeitseinsatz von körperlich verstümmelten Eingeborenen kommandiert. Lodetti ist ein Sauberkeitsfanatiker, der den „Wilden“ beizubringen versucht, dass Dreck und Unrat in den Fluss gehören, und er leidet darunter, wegen fehlender Internetverbindung vom Krieg gar nichts mit zu bekommen, oder Reverend Carter, der lüsterne Missionar, der die Moslems bekehren musste, damit ihre Frauen sich ihm unverhüllt darbieten können.
Am Ende verkörpert Dorothee Hartinger auch Oberstleutnant Karl Deutinger, den Mörder, nach dem Pellner und Dorsch auf der Suche sind. Deutinger erscheint wie ein harmloser Spinner und beweist, anhand einer seltsamen Berechnung, dass er seine beiden Kameraden lediglich getötet hat, um die Zahl der Kriegsopfer so niedrig wie möglich zu halten.
Das Patrouillenboot, mit dem Pellner und Dorsch unterwegs sind, ist auf der Bühne nicht zu sehen. Die Schauspielerinnen agieren auf einem leeren Podest vor einer Bretterwand. Diese wirft Catrin Striebeck am Schluss des ersten Teils um. Darauf folgt eine Pause, in der die ZuschauerInnen hinausgehen oder bleiben und zusehen können, wie die Akteurinnen die Bretter zerschreddern. Dabei bleiben sie in ihren Rollen und tun sich sehr wichtig als Eroberer mit Helmen und Schutzbrillen, die ihr Zerstörungswerk vollbringen. Über den Maschinenlärm hinweg dröhnt der Song „The Lion Sleeps Tonight“.
Im zweiten Teil, auf der riesigen, im Halbdunkel liegenden Bühne, verirrt sich der kleine Suchtrupp immer mehr in seinem eigenen und dem Wahnsinn des Krieges. Dorsch hat Visionen, Pellner überlegt, Dorsch zu erschießen, findet jedoch kein Motiv dafür. Der Hauptfeldwebel verliert seine schneidige Haltung, die beiden Soldaten verwildern und malen sich schwarz an. Und schließlich, als Höhepunkt des Irrwitzes, in völliger Dunkelheit, treffen Pellner und Dorsch den gesuchten Offizier, festgefahren im Inneren seines Körpers.
Eine sehr viel realere Reise bot das Maxim Gorki Theater mit Yael Ronens Inszenierung „Common Ground“. Auf der Bühne zu erleben waren sieben SchauspielerInnen, von denen fünf ihre Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien haben, einem Land, das es nicht mehr gibt. Sie stammen aus bosnischen, serbischen oder kroatischen Familien. Einer von ihnen ist Aleksandar Radenkovic, geboren in Novi Sad in Serbien. Er kam schon vor dem Balkan-Krieg nach Deutschland und ist festes Ensemblemitglied am Gorki Theater. Die anderen wurden aufgrund eines Castings engagiert, bei dem Jasmina Music und Mateja Meded einander kennen lernten. Sie stammen aus derselben Stadt in Bosnien und fanden heraus, dass der Vater der einen in eben dem Konzentrationslager als Aufseher gearbeitet hatte, in dem der Vater der anderen als Gefangener gestorben war.
Teil der Stückentwicklung, in deren Verlauf auch die Texte der SchauspielerInnen entstanden, war eine Reise nach Bosnien. Vernesa Berbo, Dejan Bucin, Mateja Meded, Jasmina Music und Aleksandar Radenkovic wurden begleitet von Orit Nahmias, die sich aufgrund ihrer israelischen Herkunft zur Konfliktberaterin berufen fühlte und Niels Bormann, der den pingeligen, tumben Deutschen vertrat.
Am Anfang gibt es einen rasanten Rückblick auf die 90er Jahre. Neben den internationalen Ereignissen in Politik, Sport und Pop-Kultur und den Naturkatastrophen in aller Welt erscheinen die Jugoslawien-Kriege wie ein Ereignis unter vielen anderen, kaum weltbewegend und mittlerweile längst vergessen.
Diejenigen, die aus diesem kaputt gegangenen Land stammen, tragen die Vergangenheit immer noch mit sich herum. Auf der Reise, von der die AkteurInnen berichten, haben sie Begegnungen mit Vertrautem erlebt, aber auch die Konfrontation mit ihren Ängsten, ihrer Trauer und ihrer Wut.
Mateja und Jasmina, Tochter eines Opfers und Tochter eines Täters, versuchen den Irrsinn der Verfolgungen und des Abschlachtens zu begreifen, kommen einander sehr nahe durch die Auseinandersetzung mit dem, was sie trennt, werden enge Freundinnen und tauschen, in der Aufführung, die Rollen miteinander.
Während Mateja durch ein Telefonat mit ihrem noch lebenden Vater völlig aufgelöst ist vor Entsetzen, durchlebt Vernesa Berbo noch einmal die Kriegsgreuel in Sarajewo und ihre Flucht aus einem Haus, das Ziel von Scharfschützen war. Unterwegs hat sie sich als Jüdin ausgegeben, weil das sehr viel ungefährlicher war als zu sagen, sie sei Serbin.
Die Gründerin einer Organisation für während des Kriegs vergewaltigte Frauen spricht über die serbischen Täter, und Aleksandar fühlt sich schuldig und ist zugleich zornig darüber, denn er hat in dieser Zeit in Deutschland gelebt und sich auch dort schuldig gefühlt, weil er in Sicherheit war, während seine Familie in Serbien von Bombenangriffen bedroht war.
Zu Begegnungen zwischen Kindern von Opfern und Tätern und zur Frage nach kollektiver Schuld müsste ein Deutscher eigentlich einiges beisteuern können. Die Rolle von Niels Bormann ist jedoch auf die des Spaßmachers beschränkt, dessen Bemerkungen gelegentlich die Grenze zur Geschmacklosigkeit überschreiten, wenn er z.B. äußert, er sei erleichtert gewesen, als bekannt wurde, dass die Deutschen nun nicht mehr die einzigen waren, die KZs gebaut hatten, oder wenn er die Idee vertritt, die während des Kriegs spurlos verschwundenen Menschen seien von Außerirdischen entführt worden.
Orit Nahmias, die zu Beginn sehr engagiert geäußert hatte, sie könne, aufgrund ihrer Kriegserfahrungen in Israel, auch den Jugoslawien-Krieg verstehen, wird im Verlauf des Abends immer schweigsamer und resignierter. Zwischen so vielen aus unterschiedlichen Gründen einander bekämpfenden Parteien zu vermitteln, wäre eine Aufgabe, der Orit sich nicht gewachsen fühlt.
Dejan Bucin, in Belgrad geboren, erklärt, er fühle sich immer noch als Jugoslawe. Seine Familie besteht aus Menschen, die in allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens beheimatet sind. Es ist eine wunderschöne, anrührende kleine Szene, in der Dejan von seinen familiären Zusammenhängen, über alle neuen Grenzen und Feindschaften hinweg, erzählt. Inmitten der Zerstörung gibt es gewachsene Strukturen, die weiter leben. So wie es auch die Lieder gibt, die in der Aufführung gesungen werden.
Das Stück, das auch weiterhin im Maxim Gorki Theater zu sehen ist, war für viele BesucherInnen einer der Höhepunkte des diesjährigen Theatertreffens.