Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). „Es fällt ziemlich schwer, eine bestimmte Begebenheit auszumachen, die für Vilhelm und mich zur endgültigen Katastrophe führte. Das wäre so, als würden Kinder mit geschlossenen Augen einen Globus drehen und den Finger auf einen zufälligen Ort legen… Und während ich jetzt meine Erfahrungen hervorhole, richtet sich der Projektor meiner Erinnerungen, der Fühler meiner forschenden Seele, unablässig und beharrlich auf jene Nacht, in der Vilhelm sich auf den Schoß des Kulturministers erbrach.“
Die dänische Journalistin, Schriftstellerin und Lyrikerin Tove Ditlevsen hat zu früh gelebt – von 1917 bis 1976. Ihre vor fünfzig Jahren geschriebenen Romane erzählen stets von ihr selbst, knapp, präzise und verstörend. Inzwischen haben Autor*innen wie Annie Ernaux, Didier Eribon, Karl Ove Knausgård oder Rachel Cusk das Fiktionalisieren des eigenen Lebens kultiviert, während das Werk ihrer Vorreiterin über den Umweg der Popmusik in den 1980er Jahren wiederentdeckt und noch ein Vierteljahrhundert später erst in den Literaturkanon ihrer Heimat aufgenommen wurde.
»Der Kindheit kann man nicht entkommen, sie hängt an einem wie ein Geruch«, schrieb Ditlevsen in ihrer autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie, die zwischen 1967 und 1971 in Dänemark erschien. In Deutschland war nur der dritte Teil 1994 bei Suhrkamp publiziert worden, Ursel Allenstein nahm sich der Neuübertragung an und der Aufbau-Verlag veröffentlichte 2021 die vollständige Trilogie: »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit«. Den Roman »Gesichter« übertrug Ursel Allenstein 2023 ins Deutsche, jetzt legt der Aufbau-Verlag auch den 1975 in Dänemark veröffentlichten letzten Roman der großen Tove Ditlevsen auf Deutsch vor.
Dieses Buch ist ein Ereignis! Unabhängig von der Trilogie und seinem Vorgänger „Gesichter“ zu lesen, erzählt die Dänin auf knapp 200 Seiten, wie ihre letzte Liebe zerbrach. Tove Ditlevsen begann 1972, ihre (gerade gescheiterte) beinahe zwanzigjährige Ehe mit Victor Andreasen literarisch zu verarbeiten. Andreasen hatte die gefährdete und immer wieder psychiatrisch zu Behandelnde von ihrer Sucht befreit und im Schreiben bestärkt. Den (verhaltenen) Ruhm erntete sie. Vilhelm betrinkt sich in der oben zitierten Szene vor Eifersucht über die Auszeichnung seiner schreibenden Ehefrau mit den „goldenen Lorbeeren der Buchhändler“ fürchterlich. Das ist der Anfang vom Ende, wie Ditlevsens Alter Ego Lise Mundus in einer großen Zeitschrift der dänischen Leserschaft mitteilt.
„Als ich dich kennenlernte, warst du nichts anderes als eine lallende Tablettensüchtige. Du kanntest weder Rilke noch Eliot noch Proust, und jetzt machst du nichts anderes, als sie zu kopieren.“
Vilhelm wird böse. Mit Witz und Sarkasmus erzählt Tove Ditlevsen von einer schreibenden Frau, die versucht, den Verlust ihrer Ehe zu verarbeiten. Übrigens mit Kenntnis und Einverständnis des Ex-Ehemanns Andreasen, wie Ursel Allenstein in ihrem erhellenden Nachwort berichtet. Vilhelms Zimmer ist ein Synonym für das Zurückbleibende, die Raum einnehmende Leere einer gestorbenen Liebe. Multiperspektivisch erzählt, gelingt der Autorin ein mitunter surreales, sprachlich beglückendes Porträt eines Abschieds, der auf fatale Weise autofiktional vorwegnimmt, was Tove Ditlevsen 1976 vollendet gelingen sollte.
„Sie wird ihr Haar unter ihre alte Wollmütze stopfen, die sie bei einem ihrer Klinikaufenthalte in der Therapie gestrickt und seither nie aufgesetzt hat. Und sie wird ein Taxi anhalten und darum bitten, zu einer bestimmten Straße in Hillerød gefahren zu werden, die, wie sie weiß, direkt am Wald liegt. Der Rest wird ganz leicht gehen.“
Bibliographische Angaben:
Tove Ditlevsen, Vilhelms Zimmer, Roman, 206 Seiten, übersetzt aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Ursel Allenstein, Bindung: fester Einband mit Schutzumschlag: Verlag: Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin, 1. Auflage 11.11.2024, ISBN: 978-3-351-03937-0, Preis: 22 EUR (Deutschland)
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