Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). „Zuerst siehst du die blätter, die vollkommen/unverständlich winken mit/ihren bleichen innenseiten. jeder baum/spielt jetzt den clown mit tausend/ungelenken händen…“
Nachdem sich Lutz Seiler in zwei Romanen mit der finalen Phase der DDR und der Wende beschäftigt hat, kehrt er in „schrift für blinde riesen“ ins gewohnte Lyrikhabitat zurück.
Zack! Nimmt Seiler uns huckepack ins heimatliche Waldstadion, wo er beim lokalen Bolzclub Traktor Langenberg auf dem Schlackeplatz debütierte und anschließend die Knaben-, Schüler- und Juniorenteams durchlief: „waldstadion traktor langenberg/seit dem sturz trag ich das mal/der aschenbahn in meiner hand, ich/nannte es den schlangenbiss/jeder wusste, woher, aus/welcher grube diese schwärze/kam und lang wusch ich die wunde/im bach…“
Seiner Dichtkunst schadete das Fußballspielen an der frischen Luft nicht, womöglich erlebte er beim Mannschaftssport sogar Momente gemeinsam erlebten Glücks? Seiler sprüht vor Schreibwut, das tönt uns im Hinterstübchen und sendet uns Freudensignale ins Hirn.
Ein paar Seiten weiter ankert Seiler im schmalen Erdreich seines Heimatdorfs und serviert Brot wie Wein. Wir begegnen seinem Ahnenapparat und lauschen seinen Toten, wir durchstreifen Brandenburgs Kiefernwälder du stolpern über loses Wurzelwerk.
Seiler sagt: „Der Hallraum eines Gedichts sollte nicht kleiner sein als der eines Romans. Jedes gute Gedicht kann der gestische Kern eines Romans sein und die Verbindung herstellen zum Ursprung des Genres: zum Epos und zu seinem Gesang.“
Das liest sich gelehrt, mal gebührend gestelzt, aber immer aber auf den Punkt genau. Mir war es bei der Lektüre, als schlüpfte ich in Krusos Haut und pirschte mich zum blechernen Sound von Feeling B durchs Unterholz. Die Wucht der Seilerschen Bildwelten: „passepartout menaggio“/ja, ich wollte beichten, aber etwas summte in der zunge wie von stumm gestellten telefonen. das leben hier: es gleicht dem knirschenden der käfer am grund der sakristei. dem hinkenden der hunde zu den mittagsstunden. bergab der matte glanz des fleischwolfs durch ein seitenfenster, grand hotel – mühsam die notizen …“
Lutz Seiler bewegt sich souverän in seinem Sprachraum und bläst uns abseits aktueller Moden den Marsch, der mal zur Hochzeit, mal zur Beerdigung führt. Nimmer moralisierend und niemals bemüht auf Teufel komm raus das RICHTIGE zu verkünden. Seilers Sprache ist gut abgehangen, der Sound knorke bis berauschend.
Schönster Satz: „seltsam ist, wie meine schiffsgedanken immer noch auf kiefernrinde reisen.“
Wer Kruso liebte und Stern 111 einsaugte, wie ich es tat, wird an den neuen Gedichten Seilers seine Freude haben und insgeheim die Brille für den nächsten Roman des einstigen Jugendfußballers von Traktor Langenberg putzen.
Bibliographische Angaben
Lutz Seiler, schrift für blinde riesen, Gedichte, 112 Seiten, fester Einband mit Schutzumschlag, Verlag: Suhrkamp, Berlin, 1. Auflage, 16.8.2021, ISBN: 978-3-518-43000-2, 24 EUR (Deutschland)