Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Gleich am Entrée der Deutschen Oper wird das Publikum von einer kleinen Gruppe mit einem unangenehmen Triller- und Schreikonzert empfangen, die „Malakov back – Sasha Waltz weg“ skandiert. (Malakov war der Intendant vor Duato). Diese Mini-Demonstration hat weniger mit dem Premierenabend der Neuinszenierung des modernen, zeitgenössischen Choreografen und Intendanten Nacho Duatos zu tun als mit der gegenwärtigen Kulturpolitik unseres Regierenden Bürgermeisters Michael Müller, der in der Nachfolge Nacho Duatos 2019 Sasha Waltz als Co-Intendantin mit Johannes Öhmann einsetzen will. Dieses löst auch beim Staatsballett Protest aus, jedoch ist es unschön, dass Nachos Premierenabend als Bühne einer kleinen Protestminderheit benutzt wird, auch im Publikumsaal – das, obwohl Nacho Duato schon genug unter unverständlichen Anfeindungen zu leiden hatte: ein Haifischbecken ist ein Kindergarten verglichen mit den Intrigen und Hickhacks, die sich hier präsentieren! Solange es nicht in einem Säureattentat endet wie im Moskauer Bolschoi-Theater können die Berliner fast schon beruhigt sein.
Als Nacho Duato auf Deutsch den Bürgermeister Michael Müller im Publikum begrüßte, wurde das wieder einsetzende Protest-Schreikonzert einiger weniger junger Frauen vom Premierenpublikum im ausverkauften Haus gelassen ertragen. Jung und Alt – viele Kinder darunter, waren erfüllt von aufgeregter Vorfreude auf die bevorstehende Darbietung. Der Madrilene Nacho Duato konnte war nicht zu beneiden in dem Moment – es war ein Affront, präsentierte er doch ein Stück, welches ihm schon in seiner St. Petersburger Zeit glänzenden Erfolg beschert hatte!
Zur Premiere
Wer „seinen“ Nussknacker in altbackener Inszenierung sehen möchte, muss sich in die finsterste Provinz auf Suche begeben: in Berlin ist der Nussknacker entstaubt und in neue, elegant-fließende Kleidern der Belle-Époque gekleidet. Hierzu Nacho Duato: „Mein Ballett spielt 1918, im Jahr nach der Oktoberrevolution und am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Eleganz langer Seidenkleider für die Tänzerinnen, also die Länge der Röcke und der männliche Smoking erlauben mir größere Freiheit und Erfindungsreichtum für die Kreation des Schrittmaterials als die Krinolinen und schweren Herrenkostüme des 19. Jahrhunderts.“
Nicht nur die Kostüme verleihen der Aufführung „die Leichtigkeit des Seins“, auch die Tanzschritte beachten zwar die akademische Technik, sind vom Madrilenen jedoch neu kreirt und tragen seine eigene choreografische Handschrift. Von Marius Petipas, der das Libretto schrieb, hat Duato überhaupt nichts mehr verwendet.
Das Bühnenbild beeindruckt ebenfalls durch eine lichte Eleganz mit viel Ornamenten in den einzelnen Bildern, jedoch ohne durch Opulenz zu erdrücken – weiter, filigran geschmückter Raum entsteht. Kostüme und Bühnenbild entstanden in Kooperation Duatos mit Jérome Kaplan. Neoklassisch, fast ohne Schnee – nicht „minimalistisch“, sondern „sehr konzentriert“, ohne Firlefranz“, so Intendant und Choreograf Nacho Duato.
Der Plot
Im ersten der zwei Akte findet die Heiligabend-Bescherung unter einem riesigen Weihnachtsbaum vor einem Fenster statt, das Ausblick auf einen Platz à la Gendarmenmarkt gewährt. Gleich wird man gefangen genommen vom tanzenden Spiel der Kinder, die Jungs in Anzügen und Spielzeuggewehren, die Mädels in pastellfarbenen langen Kleidern in einer magischen Weihnachtswunderwelt. Die erwachsenen Gäste tragen feine Roben der Belle Epoche und bewegen sich tänzerisch-elegant durch den großzügigen Jugendstil-Salon. Alle Kinder werden mit Geschenken reich beschenkt, darunter ein Prinz, eine Prinzessin und ein grimmiger Mäusekönig. (Der Mäusekönig, Nikolay Korypaev) ist köstlich, sowohl in seinen Bewegungen als auch kostümmässig mit seinem Krönchen auf dem Haupt!) Clara (von Jana Salenko liebreizend getanzt), das Lieblingskind erhält von ihrem Patenonkel Drosselmeier einen Nussknacker (Marian Walter, der gekonnt lange Sprünge zeigt), den sie gleich in ihr Herz schließt. Als alle Gäste nach Hause gegangen sind, schleicht sich Clara nachts zu ihrem geliebten Nussknacker unter dem Weihnachtsbaum zurück, wo sie einschläft. Die Sterne am Weihnachtshimmel gehen auf und schießen als Sternschnuppen wie Schneeflocken durch die Nacht. (Duato wählte bewußt das Sternenzelt als Bühnenbild, Symbol für Claras Träume, die durchs Universum reisen). Als die Uhr Mitternacht schlägt, beginnt die Zeit der Magie. Die Spielzeuge werden lebendig und eine Heerschar von Mäusen unter Führung ihres bösen Mäusekönigs füllt den Salon. (Die Mäuse sind wie eine Fliegerstaffel kostümiert und haben Zähne und Klauen.) Der Nussknacker erwacht und führt seine Armee von blau-rot kostümierten Spielzeugsoldaten in die Schlacht. Dabei wird der Mäusekönig getötet und die Mäuse fliehen. Der Nussknacker verwandelt sich in einen leibhaftigen Prinzen und nimmt Clara mit auf die Reise in ein Zauberreich, wo sie von tanzenden Schneeflocken willkommen geheißen wird, Muffins zu Gebirgen werden und Cocktailschirme Schatten spenden. In bezaubernder, revueartiger Abfolge werden exotische Tänze mit changierenden Bühnenbildern und bezauernden Kostümen in der Gruppe und als Pas-de-deux aufgeführt: spanischer, arabischer, chinesisch, russisch, französisch, gekrönt von einem Walzer, alles zur beschwingten, romantischen Musik Tschaikowskys, vom Orchester Berlin unter der Leitung von Robert Reimer vorzüglich intoniert, begleitet vom Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin.
Im zweiten Akt feiern die Spielzeuge den Sieg über den Mäusekönig. Sie führen verschiedene Tänze aus aller Welt auf. Clara und der Prinz sind glücklich.
Viel Zwischenapplaus und tosender Schlussapplaus lassen die anfänglichen Irritationen einiger Aktivistinnen schnell vergessen – ein gelungener Nussknacker in neuem Gewand, der sich lohnt, angesehen zu werden! Aus alt(backen) mach neu!