Wenn die Verdunklung erhellt. Die in Deutschland sichtbare Mondfinsternis, ein Jahrhundertereignis

In rotem Licht: Mondbetrachtung am Kurfürstendamm. Mehr Leute als bei Caspar David Friedrich. Auf halber Höhe der Mars, ein kleiner Lichtpunkt. Fasziniert betrachten Menschen den Schatten, den ihr Raumschiff auf den Mond wirft. © Foto: Andreas Hagemoser, 2018

Anklam/ Berlin/ Brandenburg/ Heringsdorf/ Kleinmachnow/ Neubrandenburg/ Rostock-Warnemünde/ Stralsund/ vielerorts, Deutschland, Erde (Kulturexpresso). Ein gesellschaftliches Großereignis. Die Fußball-WM? Klein dagegen. Nur alle 110 oder 120 Jahre soll so ein Ereignis sichtbar stattfinden. Die Mondfinsternis. Die totale. Zu lang, um es auf das nächste Mal zu verschieben. Was du heute kannst betrachten, solltest du lieber achten. Ein nächstes Mal wird es nicht geben.

Allein dieser Gedanke fasziniert viele. Zieht sie hinaus ins Freie.

Unsere Begrenztheit und die Endlichkeit des menschlichen Körpers werden gewahr.

Selbst ein Groß-Verbrecher oder ein Multimillardär hätten die Mondfinsternis nicht anhalten können. Ein gutes Gefühl, das zu wissen.

Die Entfernungen können Demut erzeugen. Wie klein wir sind. Und wie groß; wenn wir das erkennen.

Mondfinsternis und Pünktlichkeit

21.19 Uhr in Berlin: Die Sonne geht gleich unter. © Foto: Andreas Hagemoser, 2018

Unausweichlichkeit ist das Stichwort. Wer das hier verschlief oder zu lange vor dem Fernseher saß, erhält keine „zweite Chance“. Pünktlich wie der Anstoß der Spiele der Fußball-WM in Russland tritt der Mond in den Kernschatten, dann in den Halbschatten, dann in die partielle Phase, die um Berlin herum bis 1.28 uhr dauert. Um partiell entbrennt ein Streit mit einem Mitbetrachter. Das hieße doch teilweise. Ja. Aber es geht nicht um den sichbaren Schatten auf dem mond, sondern um die geringere Lichtstärke des Vollmonds, da der Planet Erde einigen Sonnenstrahlen auch zwischen 0.20 Uhr und kurz vor halb zwei im Wege war.

Die Betrachtung des Mondes erfordert Vorbereitung. Akku voll? Kamera dabei? Doch die wichtigste Frage: Von wo aus betrachten?
Einige von uns sind nach Marienfelde gefahren, um vom Berg aus näher an den Ereignissen zu sein. Man kann ja nicht immer aus Charlottenburg berichten. Allein: Der Dunst störte. Nicht der Alkoholdunst, der die eigene Wahrnehmung trüben könnte, sondern die wolkenähnliche Sichtbehinderung des gerade gegen 9 aufgegangenen Mondes. Also schnell in die Innenstadt. Am Kurfürstendamm muss man auf Fußgänger achten. Mehr als sonst um diese Uhrzeit. Obwohl die totale Verdunklung des Vollmondes schon eine Stunde andauert, ist an guten Stellen alles voll. Zum Glück ist der höchste Punkt des Ku’damms nicht nur in der Nähe der Autobahn. Die Kurfürstendammbrücke ermöglicht eine freie Sicht nach Süden, während der Mond auf seiner Umlaufbahn nach links aus dem Schatten entflieht. Durch die Erddrehung wandert der Mond natürlich subjektiv nach rechts und steigt gleichzeitig an. Gut für die Beobachtung. Doch das wichtigste: Der Himmel ist klar! Hurra!

Alles klar.

Fake News zur Mondfinsternis

Mond mit Erdschatten, unten der Mars. © Foto: Andreas Hagemoser, 2018

Hohle Erde? Nicht gesellschaftsfähig, nicht mehrheitsfähig. Nein, die Kollegen der Boulevardzeitungen haben gut informiert. Nicht gut genug für einen Physiklehrer. Er schimpft auf die falsche Graphik und holt Papier und Stift. Nicht so schick wie in der Zeitung, dessen ausgeschnittener Artikel herumgereicht wird, dafür aber richtig zeichnet er die Position des Mondes und der Erde ein. Der Schattenwurf war falsch dargestellt.

Auch sonst kursieren viele Gerüchte: Ein Pärchen photographiert mit dem Handy. Der Mann erzählt, er habe es erst kürzlich von einem Arbeitskollegen erfahren. Ich frage ihn, welcher Planet denn da unten dichter über Land zu sehen sei – Venus oder Mars? Das sei bestimmt ein Flugzeug, meinte er. Das muss von Air Berlin gewesen sein, denn es rührte sich scheinbar gar nicht vom Fleck.

Es war aber auch kein Stern, denn die flackern. Gesellschaftlicher Konsens biledet sich heraus. Eine Anwohnerin um halb zwölf: „Das ist der Mars, haben wir herausgefunden.“ Sie ist mit einer Nikon ausgestattet und photographiert bequem von einer Bank aus. Der Ku‘damm macht‘s möglich.

Die Mondfinsternis: ein Thema für Astrologie, Astronomie und Vermischtes

8 nach Mitternacht: Vom Erdschatten ist nur noch wenig zu sehen. Elf Minuten später ist das vorbei. Die partielle Phase beginnt. © Foto: Andreas Hagemoser, 2018

Die US-amerikanische Theater- und Buchautorin Lisa Streitfeld weist seit langem auf die große Bedeutung solcher Finsternisse hin. „Eclipse of the moon“ und „eclipse of the sun“ heißen sie auf der anderen Seite des Kanals und großen Teiches. Lisa S. Ist eine Pionierin auf dem Gebiet. Leider liegen ihre Veröffentlichungen noch nicht in deutscher Sprache vor.

Mondfinsternis und Geschlecht

Der Mond ist im Deutschen männlich. International ist das eher die Ausnahme. La lune (lün, frz.), la luna sind weiblich. Die Sonne ist weiblich, le soleil auf französisch männlich. Das spricht eine deutliche Sprache.

Mondfinsternis: Alle auf Augenhöhe

Handyphotos, Zweite-Reihe-Parken: Um 23.35, bei beginnendem Halbschatten, ist immer noch viel los am Kurfürstendamm. © Foto: Andreas Hagemoser, 2018

Die Oberärztin und der Künstler, der DHL-Fahrer und die Softeisverkäuferin: Beim Fußball begegnen sich alle auf Augenhöhe. Nationalitäten bekommen ihren richtigen Platz, wenn Niederländer und Deutsche das Endspiel Kroatien-Frankreich anschauen.

Auch bei der Mondfinsternis kommen Wildfremde miteinander ins Gespräch. Menschen, die sich sonst nie gesprochen hätten. Geschäftsideen entstehen: „Das Opernglas könnten Sie verleihen“. Ein Fernglas macht die Runde.
Junge sprechen mit Alten. Dumme mit Klugen. Männer mit Frauen. Dick und Doof in Betrachtung des Mondes. Es herrscht Frieden.

Mondfinsternis: Kein nächstes Mal

Die Mondfinsternis passiert in den nächsten hundert Jahren nicht noch einmal. Das ist Rekord. Und wenn jemand die Mondfinsternis mit Mars doch noch einmal erlebt, ziehen vielleicht gerade Wolken auf. Dennoch: Eine Fußball-WM in Russland wird es vielleicht innerhalb der nächsten hundert Jahre auch nicht mehr geben.
Der Unterschied: Wir wissen es nicht.

Die Wissenschaftler, die jetzt ausgrechnet haben, das 2120 nach nächste Mal so ein kosmisches Ereignis eintreten wird, werden dann schon lange verstorben sein.

Unsereins freut sich ja schon, dass die WM in Russland im Sommer stattfand. Denn die nächste Fußball-WM findet im Dezember statt. Katar macht‘s möglich.

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