Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Der Fall ist außergewöhnlich. Ein Buch, das jahrelang in mehreren Auflagen erschien und ein Bestseller war, gerät in Vergessenheit und seine Autorin schreibt über Jahrzehnte keinen Roman mehr. So geschehen bis vor wenigen Monaten. Dann entschließt sich der Berliner Aufbau-Verlag dazu, den zuerst 1974 in der DDR verlegten Roman „Karen W.“ von Gerti Tetzner noch einmal herauszubringen. Die knapp 90-Jährige ist freudig überrascht am großen Interesse, das ihr Roman heute auslöst und beginnt wieder zu schreiben.
Was diesem Märchen zu Grunde liegt, ist ein Buch über eine Zweiflerin. Karen W., junge Mutter, ehemalige Juristin und Gefährtin eines Wissenschaftlers, wirft ihr Leben in die Waagschale:
„Dieses Grübeln, wie und warum wir so geworden sind und wie wir hätten sein können. Gedanken und Bilder fingen an zu kreisen. Nacht um Nacht rasten sie unaufhaltsam im Kreise, rissen mich wie Strudel mit sich hinunter.“
Karen W. verlässt mit ihrer kleinen Tochter das eingerichtete Leben, Mann, Wohnung und Stadt. Sie reist in das Dorf ihrer Kindheit, irgendwo in Thüringen. Dort hilft sie bei der Ernte, findet Ablenkung in schwerer körperlicher Arbeit.
„Einweisung in diese Arbeit erübrigt sich. Alles ist schnell zu übersehen. Die Kartoffeln liegen bereites ausgeschleudert, sie glänzen taufeucht und gelb zwischen der rotbraunen Erde. Jede Frau nimmt einen Korb mit vom Hänger und bückt sich über eine Reihe. Es entsteht eine breite Kette von Frauen quer zum Feld. Ein paar Männer fahren mit Traktor und Hänger nebenher und kippen die schweren Körbe über die Planken.“
In einem Gespräch mit Gerti Tetzner im Anhang des Romans wird aufgeklärt, was beim Lesen durchschimmert. Die Frage nach eigenen Erfahrungen mit schwerer körperlicher Arbeit beantwortet die Autorin: „Das ist ein Antrieb des Schreibens für mich gewesen, dass man eben dort, wo das Leben entsteht und sich abspielt, nachforscht. Und nicht Meinungen über das Leben austauscht.“
1936 bei Bad Langensalza geboren, belegte Gerti Tetzner als erstes Kind ihres Dorfes das Abitur, studierte Rechtswissenschaften, quittierte bald nach dem Abschluss ihren Dienst und studierte am weiter Leipziger Literaturinstitut. Sie begann zu schreiben und tauschte sich mit Christa Wolf über ihr Romanvorhaben aus, wurde in den Kreis befreundeter Schriftstellerinnen aufgenommen und blieb lebenslang mit eng Christa Wolf verbunden. Nach der Verweigerung der Veröffentlichung ihres zweiten Romans durch die DDR-Zensur schrieb Gerti Tetzner erfolgreich Kinderbücher und hütete die Ferienhäuser anderer Künstler. „Ich bin keine Schriftstellerin, die schreiben muss.“ Sagt sie im angehängten Gespräch.
Ihre Karen W. zeigt keinen Funken Angst vor harter Arbeit und anderen Schwierigkeiten. Am Nachmittag des oben zitierten ersten Arbeitstages besteht Karen nur noch aus Kreuz und schweißigem Hemd. Und ist glücklich. Ein befriedigendes Eintauchen in die Welt der Arbeit war typisch für die DDR-Literatur und liest sich von heute aus als etwas ungewohnt Nahes und Anstrengendes. Apropos Nähe: Körper und Menschen werden erkundet, müssen für Karen physisch wie gedanklich neu erlernt werden. Die junge Frau vermisst die Nähe zu einem Mann. Ihre Gedanken-Karussell führt zu vermuteten Feststellungen. Das sind großartige Momente dieses Romans, der sprachlich viel ertastet.
„Unsere Körper waren von dem Männerpol und dem Frauenpol der Welt gekommen und kannten einander nicht. Sie kannten nicht einmal sich selbst.“
Wir erleben mit Karen das Wegsein, die Flucht nach innen, zurück in die Landschaft der Kindheit, zu den ungelösten Fragen der Familie und des Ortes. Wie Zwiebelschalen legen sich die abrupt unterbrochene Liebesgeschichte zu ihrem Mann darüber, mögliche Momente mit einem anderen. Noch darüber legen sich die Fragen nach dem Sinn eines Lebens als Juristin, die Frage nach dem Bestehen in einer sozialistischen Gemeinschaft, nach dem Wert jeden einzelnen Lebens.
Viel wird hier verhandelt, nicht alles muss jeden Leser gleich betreffen und betroffen machen. Das Erstaunen über die Wiederbelebung dieser puren Aufbruchsliteratur, dieses Experiments des Fragenstellens, wird alle einen. Dank an den Verlag für das Wagnis! Mehr von Gerti Tetzner!
Bibliographische Angaben:
Gerti Tetzner, Karen W., Roman, 398 Seiten, Sprache: Deutsch, Bindung: fester Einband mit Schutzumschlag, Verlag: Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin, 1. Auflage 13.8.2025, ISBN: 978-3-351-04264-6, Preise: 24 EUR (Deutschland), auch als E-Buch erhältlich
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