Berlin-Kreuzberg, Deutschland (Kulturexpresso). „Steht doch da!“ heißt die Photoausstellung im Nachbarschaftsheim Kreuzberg im ehemaligen Groß-Berliner Bezirk, der nun seit 2001 der West-Berliner Teil des Groß-Berliner Bezirks Kreuzberg-Friedrichshain ist, der unter anderem über die Oberbaumbrücke zwischen Schlesischer Straße und Warschauer Straße miteinander verbunden ist. Aus künstlerischer Sicht ist es eine kleine Ausstellung. Die großen Abzüge hängen in einem einzigen Saal und verbreiten ein Schwarz-weiß-Gefühl. „Steht doch da!“ ist eine Photoausstellung zum Analphabetismus und dessen Wirkung in der Gesellschaft; Benachteiligung, auf die aufmerksam gemacht werden soll, um sie zu verringern und letztlich zum Verschwinden zu bringen.
„Steht doch da!“ wird im Alltag oft gefolgt von der vorwurfsvollen Ergänzung: „Kannst du nicht lesen?“ Selten „Können Sie nicht lesen?“ Was aber, wenn der Adressierte Analphabet ist? Scham führt zur geringen Sichtbarkeit von Analphabetismus, die nicht immer 100%ig ist. Schlecht lesen können gehört auch dazu. Auf manchen Websites ist jetzt eine Schaltfläche „Einfache Sprache“ zu finden. Bald wird dieses Angebot Pflicht und Regel per Gesetz.
Jemanden zu fragen macht abhängig. Es wird aber auch immer schwieriger, jemanden zu finden, den man fragen kann, obwohl jetzt in der Bundesrepublik Deutschland die Bevölkerung so groß ist wie noch nie (etwa 84,7 Millionen). Fast alle unter 36 haben einen Kopfhörer auf. Und die, die keinen aufhaben und auch keinen Mann im Ohr, verstehen häufig nicht nur in Kreuzberg, sondern in ganz Berlin und anderen Städten wie Hamburg, kein deutsch. Aber selbst wenn: Der Ausländer oder Deutsche mit Migrationshintergrund kann vielfach selbst nicht lesen und wenn, dann kein deutsch. Ein nichtrepräsentativer Test unsererseits, der aus einer Situation heraus entstand, macht(e) das noch einmal deutlich.
Unabhängigkeitstag
Während einer Fußball-EM suchten wir einen leeren Späti auf. Der Diensthabende versuchte ein Spiel mit türkischer Beteiligung zu verfolgen – ohne ein Bild oder einen Ton zu haben. Er wusste lediglich – von einem Freund?? – dass es 1:0 stand. Wir wiesen daraufhin, dass alle Fußballspiele, auch die, die die ARD nicht zeigt, als Ticker und mit einer akustischen Liveberichterstattung von der Sportschau angeboten werden. Ähnlich einer Radiosendung. Da das Interesse des Verkäufers sehr groß war, fragten wir, ob er Türke sei, was bejaht wurde. Nach einem zweiten Pass haben wir selbstverständlich nicht gefragt; es ging ja nur um das Rätsel, warum während der Arbeit unbedingt ein immerhin mindestens anderthalb Stunden dauerndes Fußballspiel verfolgt werden musste. Das ist ja bei der Arbeit nicht jedem Arbeitnehmer möglich oder erlaubt.
Um zu helfen, verwiesen wir mehrfach auf sportschau.de. Mündliche Kommunikation war zwar nicht besonders einfach, aber irgendwie möglich. Das Eintippen von „Sportschau“ in die Adresszeile des Browsers oder eine Suchmaschine wollte auch beim wiederholten Versuch nicht gelingen. Schließlich tippten wir es selber ein, das Wort „Sportschau“. Nun ging alles ganz schnell, der Verkäufer fand gleich etwas, wo er raufklicken konnte, und nach Sekunden erklang die Liveberichterstattung.
Der 4.Juli ist der Unabhängigkeitstag in den Vereinigten Staaten von Amerika, sich auf 1776 beziehend. Vielleicht ein Anreiz, auch den von mehr oder weniger partiellem Analphabetismus Betroffenen zu helfen. Dazu muss man zunächst das Problem erkennen.
Analphabetismus. Problem erkannt – Gefahr gebannt: Steht doch da!
Man schließt gern von sich auf andere und kann sich meist gar nicht vorstellen, vor welchen Hürden Leute stehen, die die Schilder und Aufschriften nicht verstehen. Das ist so, als sähe ein Rot-Grün-Blinder eine rote Ampel. Oder wie in dem Film „Sie leben!“, wo der Hauptdarsteller auf ein Plakat, das zum Beispiel für ein „Erfrischungsgetränk“ wirbt, durch eine besondere Brille schaut. Statt „Trink!“ liest er „Kauf!“, „Ordne dich unter“, oder „Gehorche!“
Da man sich das Problem nicht vorstellen kann, hat man vielleicht selbst schon einmal unwirsch jemanden angeherrscht: „Steht doch da!“ „Können Sie nicht lesen?“
Fast jeder hetzt heute durch die Gegend. Termine, nicht funktionierender Nahverkehr, schlechte Auskunft und lange Wartezeiten mangels Mitarbeitern, immer mehr Hamsterrad, weil die Inflation das bisher zur Verfügung Stehende auffrisst oder doch annagt. Hätte man Zeit, könnte man durch Beobachtung Analphabeten erkennen, die trotz Schild in die falsche Richtung laufen oder anderes auf den ersten Blick Unverständliche tun.
Nicht jeder, der einen anspricht, ist Bettler oder Taschendieb. Manchmal ist das Problem Analphabetismus – und die Lösung einfach.
Zunächst braucht es Verständnis. Das ist der erste Schritt.
Die Photoausstellung macht die Problemlage sehr gut deutlich. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, heißt es. Dieser Artikel enthält über 1000 Wörter (1160 Stück). Vielleicht fahren Sie mal ins Nachbarschaftsheim Mehrgenerationenhaus nach Kreuzberg und werfen einen Blick auf die Photos. Dann fällt vielleicht der Groschen…
Aha!
Lesen hilft doppelt
Am 12. Februar ’23 erschien der Artikel Lesen und dann länger leben – neue Studie – KULTUREXPRESSO von Andreas Hagemoser. Dr. Gerhard Lauer und andere weisen darauf hin, dass Lesen heilt und länger leben lässt. Mehrere Studien beweisen das. Es hat zum Teil damit zu tun, dass Wissen angeeignet wird. Aber es geht auch um die Benutzung des Gehirns überhaupt und dessen Durchblutung. Es geht auch um Lebensfreude und Lesefrüchte. Das wohltuende Gefühl, Zusammenhänge zu erkennen und Rätsel zu lösen.
Sie als Leser, dieser Zeilen oder des ganzen Magazins, sind also im doppelten Vorteil. Zum einen sind Sie in die Gesellschaft integriert und haben damit nicht die Probleme, auf die die Photoausstellung „Steht doch da!“ hinweisen möchte, zum anderen leben Sie länger wegen des Lesens. Vermutlich auch erfüllter und weniger gelangweilt. Eine Verkürzung des Lebens ist üblicherweise einfacher und schneller zu bewerkstelligen als eine Verlängerung. Falls Sie gerne lesen, aber nicht länger leben möchten, sollte das nicht der Hinderungsgrund sein, zu einer Lektüre zu greifen.
Laut manchen Wissenschaftlern ist unser menschlicher Körper auf eine Lebensdauer von 150 Jahren ausgelegt, mindestens aber 120. Umwelteinflüsse wie Glyphosat, Aluminium und Elektrosmog zum Beispiel, aber auch schlechte Gewohnheiten wie Rauchen oder Alkoholtrinken, die der einzelne einfach steuern kann, kommen dann in der Summe meist zum Abzug.
Lesen lernen und Lesen können sind also in mehrererlei Hinsicht von Vorteil.
Steht doch da! (Kannst du nicht lesen?) Photoausstellung im Nachbarschaftsheim Kreuzberg
Was? Kleine Photoausstellung mit politisch-gesellschaftlichem Anspruch. Zielt auf Bewusstmachung des Vorhandenseins von Bürgern mit Analphabetismus hin. Titel: „Steht doch da!“ (Kannst du nicht lesen??)
Wann? Zu den Öffnungszeiten, tagsüber meist wohl von (10 bis) 12-18 Uhr mindestens.
Wo? Nachbarschaftsheim Kreuzberg und Mehrgenerationenhaus, Gneisenaustraße 12/ 12a, 10961 Berlin. Die Bezeichnung „Kreuzberg 61“ hat sich zufällig oder absichtlich in der neuen Postleitzahl nach der Wiedervereinigung gehalten. Vom Eingang des Nachkriegsbaus geht eine Tür nach rechts ins Café und eine geradeaus in einen großen, in dem die Photographien ausgestellt sind.
Das Mehrgenerationenhaus ist ins Netz gegangen und hat eine Telefonnummer: 03028508442 (Festnetz in Berlin).
Lage und Anfahrt: Zwischen U-Bahnhof Mehringdamm (U6 + U7), BVG-Bus M19, und U-Bhf. Gneisenaustraße (U-Bahn-Linie 7), Bus 140. (Die Gneisenaustaße ist die Verlängerung der Yorckstraße nach Osten bis zum Südstern mit Kirche auf der Mittelinsel, weiter zum Hermannplatz führt dann die Hasenheide mit dem Jahn-Denkmal.)
Die Leute im Nachbarschaftsheim sind in der Regel freundlich und hilfsbereit zugleich. Wenn Sie die Photoausstellung nicht gleich finden oder sich diesen Text von einer Maschine haben vorlesen lassen – fragen Sie ruhig jemanden im Nachbarschaftsheim. Mitarbeiter tragen Namensschilder. Die müssen sie ja nicht lesen können – aber jemand mit Namensschild ist ansprechbar!
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