Das gebrochene Licht – „Die Kolonie“ ist ein schauerlich schöner Roman von Audrey Magee über eine irische Insel

"Die Kolonie", ein Roman von Audrey Magee. © Nagel & Kimche

Berlin, BRD (Kulturexpresso). „Lloyd schüttelte den Kopf, den ganzen Körper. Er blickt noch einmal nach unten, zu seinem Rucksack, seiner Staffelei, seiner Truhe mit Farben, die schon bereit waren für die Fahrt übers Meer in einem selbst gebauten Boot. Er streckte das rechte Bein nach unten aus, dann das linke, sich immer noch an die Leiter klammernd.

Selbstporträt I: fallend

Selbstporträt II: ertrinkend

Selbstporträt III: entschwindend…“

Dieses Buch ist witzig. Allein die kursiven Einschübe, die preisgeben, was der Maler denkt, wie er sich selbst in unkomfortablen Momenten wahrnimmt beziehungsweise malerisch vorstellt, sind köstlich. Ein Maler um die vierzig reist mit zwei Männern in ihrem Nachen auf eine irische Insel, um dort den Sommer zu verbringen. Abgeschieden, einsam, der Kunst ergeben und ausgeliefert. Seine Koffer werden mit der Fähre gebracht, während der Londoner Maler schon sein Häuschen bezieht und sich von der entsetzlichen Überfahrt erholt. Er darf die Menschen auf der Insel nicht malen, wird ihm gesagt. Übersetzer ist James, der einzige jugendliche Insulaner. Sein Vater, Onkel und Großvater sind bald nach seiner Geburt beim Fischen ertrunken. James spricht gut Englisch und geht dem Maler zur Hand. Unbefangen. Stellt viele Frage und beantwortet viele. Bald mischt er sich ein in die malerische Unzulänglichkeit des Engländers.

„Sie verstehen nicht, wie das Licht aufs Meer fällt.

Tatsächlich, James?

Sie sehen es falsch.

Ach, wirklich?

Ja, Mr. Lloyd.

Und woher weißt du das?

Ich sehe die ganze Zeit aufs Meer, es gibt sonst nichts zu tun.“

An dieser Stelle des 400 Seiten dicken Romans hat es einen längst erwischt. Verliebt frisst man sich durch die Seiten, bestaunt die karge Inselnatur und wandert mit James zu den Kaninchenlöchern, über die er seine Fangnetze legt. Dabei bedenkt er, was er den Maler fragen will, was erklären. Einleuchtend scheint, was der Junge sieht. Wie das Licht das Wasser durchdringt. Es wird gebrochen, bleibt nicht einfach an der Wasseroberfläche. Also müsste es auf den Bildern so aussehen, als wäre das Meer von unten und oben beleuchtet.

Während James selbst beginnt zu zeichnen, landet ein zweiter Fremder auf der Insel. Der französische Linguist Masson, der eine Arbeit über das Verschwinden der irischen Sprache schreibt und seit einigen Jahren die Insel besucht, Sprachaufnahmen anfertigt. Und schon lodert ein Konflikt auf, sind sich beide Männer im Weg. Konkurrieren inmitten der Insulaner. Warum sollte man eine Sprache beschützen, die die meisten Leute nicht sprechen wollen? fragt der Maler und zieht weit weg auf eine Klippe, in eine Schutzhütte. Bestellt James‘ Mutter zum Malen zu sich, die Schönste der Frauen…

Es wirkt verzaubert, was Audrey Magee in ihrem zweiten Roman schafft: eine Inselatmosphäre, die von Kunst, Sprachen und Geistern durchdrungen ist. Die irische Schriftstellerin webt Meldungen von Anschlägen auf dem Festland in den Insel-Text, der aus der Zeit gefallen scheint. Dass sich der kühle Sommer mit seinen aufheizenden Gemütern im Jahr 1979 ereignet, wird kaum durch Ereignisse verankert. Archaisch wirken Lebensweise und Handlungen der Menschen, zeitlos eben. Nur das Radio berichtet vom nahen Tod, der Gewalt.

Während der Franzose Masson, Kind einer Algerierin und eines Franzosen, seine eigene kompliziert wie zerrissene Kindheit reflektiert und gegen den Maler grollt, entwächst der Inseljunge James seiner Herkunft. Er will nicht den Traditionen folgen, will nicht den gestrickten Pullover der Mutter annehmen, den diese für alle Fischer fertigt. In seinen Gedanken und Wünschen liegt der wahre Aufbruch, das Überwinden der kolonialen Besetzt-Heit, in der Bewohner wie Besucher gefangen sind. Wer ist die Kolonie?

„Ich werde das nicht tun. Ich werde nicht so ein Fischer. Folge nicht dieser Tradition. Der Tradition von Ertrinkenden. Er schlug ein leeres Blatt auf und zeichnete mit Bleistift zwei Kaninchen, tot im Gras, drei Fischer, tot auf dem Meeresgrund.“

Ein Roman, der nach dem Gewicht der Kunst fragt, dem Wert der Freiheit. Ein Roman, der Überwindung alter Muster durch Perspektivwechsel probt und ein scharfkantiges Ende liefert, das uns ins Gesicht knallt wie eine Welle der Irischen See. Grandios!

Bibliographische Angaben:

Audrey Magee, Die Kolonie, Roman, 399 Seiten, Sprache: Deutsch, Übersetzerin aus dem Englischen: Nicole Seifert, Verlag: Nagel und Kimche AG, Zürich, in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg, 1. Auflage 28.1.2025, ISBN: 978-3-312-01289-3, Preis: 24 EUR (Deutschland), auch als E-Buch erhältlich

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