Das weibliche Universum – eine genial gezeichnete Menschheitsgeschichte, Teil 1

"Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte" von Ulli Lust. © Reprodukt

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). „Wir befinden uns im Jahr 2025. Die gesamte Weltgeschichte ist ein Beweis für die Überlegenheit des Mannes… Die gesamte? Nein! Ein paar kleine Figurinen in den Museumsvitrinen hören nicht auf, die Legende von der natürlichen Dominanz des Mannes zu widerlegen.“

Auf Seite 15 des 250 Seiten dicken Comics schlägt frau zurück. Sind wir zunächst mit der begnadeten Zeichnerin Ulli Lust in ihre Kindheit zurückgekehrt und haben mit ihr ausgelotet, wie Kindern noch heute Scham vermittelt wird, beginnt jetzt die Suche nach der Herkunft unseres Frauenbildes. Da entfaltet sich die überraschende Möglichkeit, die Comic bietet: es ist zum Beispiel möglich, auf einer einzigen Seite (Seite 16 – phänomenal!), sowohl einen Zeitstrahl, eine Europa-Asien-Weltkarte, rund 50 Figurinen (davon eine handtellergroß) und etwa 10 Textblöcke unterzubringen und das Ganze grafisch und farblich komplex und inhaltlich schlüssig in Szene zu setzen!

Auf dieser Seite erfahren wir staunend, dass über 30.000 Jahre lang Frauenstatuetten hergestellt wurden, aus Keramik, Stein oder Mammutstoßzähnen – von Südfrankreich bis nach Sibirien. Tiere waren das beliebteste Motiv der Eiszeit und wenn Menschen gezeigt wurden, waren sie meist weiblich, während Männer selten, meist als Tier-Mensch-Mischwesen gezeigt wurden. Im Bilderschatz der Eiszeit repräsentiert die Frau die Kategorie Mensch, während vergleichbare ikonische Männerfiguren 30.000 Jahre lang fehlen. Das änderte sich radikal und „seither herrscht keine Mangel mehr“, schreibt Ulli Lust und fügt auf der nächsten Seite den Vortrag eines Kulturphilosophen von 2014 an, der behauptet, dass Frauen zu schwach zum Jagen gewesen seien und deshalb eine untergeordnete Rolle in der Ur-Gesellschaft gespielt hätten. Paläolithische Skelette mit ihren Spuren gut entwickelter Schultermuskulatur beweisen jedoch, dass die Menschen der Urzeit wahrscheinlich Universalisten waren, „jede und jeder musste alle Fähigkeiten beherrschen, die zum Überleben nötig waren. Dazu gehörte auch das Jagen.“

Auf den folgenden Seiten reisen wir mit Ulli Lust durch die Kunstgeschichte der Urzeit, von Ägypten über Pakistan bis nach Ecuador und China. Die Figurinen weiblicher Menschen sind in farbigen Zeichnungen besonders schön zu entdecken. Es gibt Brüste, Schenkel und Tierköpfe zu bewundern, auffällige Haartrachten oder kahle Köpfe, mal rund, mal dreieckig. Völlig fehlen Waffen, Kämpfe oder Kriegsszenarien. Die freie Darstellung weiblicher Körper endet mit der Statue der griechischen Göttin Aphrodite (römisch Venus), die versucht, sich zu verhüllen, wenn sie angeschaut wird. Die (weibliche) Scham wird gesellschaftliche Norm.

Ein neues Kapitel, die erwachsene Ulli Lust betritt am Flughafen Berlin Tegel ein Flugzeug und macht sich Gedanken über das Sozialverhalten der Menschenaffen, zunächst anhand eines seine Beine spreizenden Mitreisenden. Weiter ziehen die Gedanken zum Sozialverhalten von Gibbons, Schimpansen, Bonobos und Gorillas bis hin zur Ausbildung des extrem großen Gehirns des menschlichen Fötus, was in der Evolution dazu führte, dass Kinder den Mutterleib verlassen mussten, bevor sie alle Prägungen erfahren hatten. „Wir müssen alles erst lernen, und zwar von anderen Menschen. Das ist das Ergebnis eines evolutionären Kompromisses, den wir erstaunlicherweise überlebt haben. Wir verdanken ihm wohl den freien Willen.“

Ulli Lust wurde 1967 in Wien geboren, studierte an der Kunsthochschule Berlin Weißensee und zeichnete für die Stadtteilzeitung/Berlin-Mitte „Scheinschlag“ jahrelang Berliner Straßenszenen. Ihr 2009 veröffentlichter punkig autobiografischer Comicroman „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“, wurde international als Meisterwerk gefeiert. 2017 folgte mit der Graphic Novel „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ die Geschichte einer sexuellen Obsession und Selbstbefreiung. Jetzt legt die Zeichnung und Comic an der Hochschule Hannover lehrende Künstlerin mehr als einen Sach-Comic vor: es ist eine kaleidoskopisch komplexe Sicht auf die Menschwerdung. Aus wechselndem Blickwinkel, mit weiblichem Fokus.

Ulli Lust untersucht zum Beispiel in einem Kapitel, wie die Khoisan (auch Buschleute genannt) im Süden Afrikas bis vor kurzem gelebt haben – ihre Kulturen gelten als Modell für das Zusammenleben von Urgesellschaften – welche Farben Menschen seit Jahrtausenden wofür benutzen, wie wir Menschen mit Graslandschaften und Eis zurechtkamen, wie früh menschliche Kunst begann, welche Tiere wir verehrten, wie wir jagten, fischten und weiterzogen. Und wenn die Leserin sich dem Fluss der Bilder und Texte ergeben hat, mit den Bildern durch die Zeit zu fliegen beginnt, ist unser kleiner Menschenclan, den wir Dank Ulli Lust etwas näher kennen lernen dürfen, unterwegs ins Winterlager – Fortsetzung folgt.

Ungewöhnlich, aufregend, fantastisch – ein Augenschmaus und pulserhöhendes Geschenk. Dieses Buch braucht jeder Mensch!

Bibliographische Angaben:

Ulli Lust, Die Frau als Mensch, Am Anfang der Geschichte, Comic, Sprache: Deutsch, farbig, Format: 19,3 × 26 cm, Bindung: fester Einband, Verlag: Reprodukt, Berlin, 1. Auflage Februar 2025, ISBN: 9783956404450, Preis: 29 EUR (Deutschland)

Anmerkungen:

Am Montag, den 24. März 2025, um 19 Uhr liest Ulli Lust im Berliner Theater unterm Dach aus ihrem neuen Comic „Die Frau als Mensch – Am Anfang der Geschichte“.

Die Veranstaltung ist eine Kooperation der Buchhandlung Die Insel mit dem Theater unterm Dach. Theater unterm Dach, Danziger Straße 101, D-10405 Berlin

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