Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Welch Zufall. Vor 300 Jahren, am 10. Oktober 1722, nahm Johann Sebastian Bach Logis bei der herzöglichen Cousine Amalie im Steglitzer Wrangelschlösschen – dem heutigen Schlosspark Theater. Er hatte gerade in Köthen »Die Kunst der Fuge» beendet, und die adlige Gesellschaft nötigte ihn, etwas vorzuspielen. Entweder wollte er nicht Perlen vor die Säue werfen oder er war des Stücks überdrüssig – jedenfalls fiel ihm ein, das Gegenteil der Fuge, eine UnFuge, zu improvisieren. Er bot ein Feuerwerk an Musikalität, was genau, weiß man nicht, aber der Name war geboren – die UnFuge. Eine Schote! Das reizte den Orchesterdirektor des Deutschen Symphonie-Orchesters (DSO), Thomas Schmidt-Ott, mit Dieter Hallervorden zu reden. Die beiden Genies entwickelten den Plan von Kabarett-Konzerten, und so startete auf den Tag genau nach 300 Jahren das erste von vier Konzerten, »Die Kunst der UnFuge» – wenn das kein Erbe ist!
Aber warum hatten sie den 300. Jahrestag nicht groß angekündigt, mit Festakt, Stiftung eines Preises und Sonderbriefmarke? Ein Blick ins Lexikon genügt um festzustellen, dass das Gutshaus Steglitz, genannt Wrangelschlösschen, erst 1802 erbaut wurde. Und so kommt zur Schote die Überschote: Die Geschichte von Bach und der UnFuge hat Schmidt-Ott frei erfunden, gut erfunden, immerhin ein Anlass für die »musikhistorische» Untermauerung der neuen Kunstform Kabarett-Konzert. Schmidt-Ott und Hallervorden grübeln, wie sie auch die künftigen Konzerte mit einem »musikhistorischen» UnFug begründen können. Nach Matthias Richling sollen nämlich auch die »Leuchttürme des deutschen Kabaretts», Christian Ehring, Torsten Sträter und Arnulf Rating gemeinsam mit Blechbläsern, Flöte, Harfe, Schlagzeug und Streichern des DSO auftreten.
Doch zurück zum Konzert. Der Parodist Matthias Richling und vier Cellisten des Deutschen Symphonie-Orchesters spielten auf. Normalerweise wird im Kabarett gestikuliert, gelaufen, getanzt, gesungen – was machen vier Musiker, die sich mit ihrem Instrument nicht von der Stelle rühren können? Sie zaubern aus den Celli Klänge, »wie Bach sie auch hätte schreiben können», frei nach Queen, Tschaikowski, Piazolla, Brubeck, Mackeben, Beethoven und anderen – im ausverkauften Theater mit stürmischem Beifall bejubelt. Im Schnellkurs handelte Richling alle gegenwärtigen Krisen ab: Pandemie, Klimakrise, Ukraine-Krieg, Energiekrise, die politischen Krisen von SPD und CDU… Klugerweise konzentrierte er sich auf Schwerpunkte, zum Beispiel auf die Sinnhaftigkeit der Benutzung von Waschlappen und der Wiederverwendung von Badewasser, bis kein Auge trocken blieb. Oder auf den Nutzen des illegalen Ankaufs von Daten der Kunden von Schweizer Banken durch Norbert Walter-Borjans im Amt des seinerzeitigen Finanzministers von Nordrhein-Westfalen – Daten, die vor keinem Gericht Bestand hätten. Und wo sind die eingetriebenen Milliarden geblieben? Das Programm des DSO beteuert, Politiker fürchteten sich vor Richlings Urteil. Der ging auch hart ins Gericht mit Winfried Kretschmann, Gerhard Schröder, Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken, Angela Merkel. Ätzende Parodien lieferte er von Gerhard Schröder und Rolando Villazon. Aber von denen hat er nichts zu befürchten. Aus seinem Gedächtnis waren jedoch wie bei Olaf Scholz die Steuergeschenke an die Warburg-Bank entschwunden. Wer fürchtet sich vor wem? Wohltuend, im Gegensatz zu den Fernseh-Ansagern, führte Richling keine Polemik gegen Rußland (auch gegen die NATO nicht). Er erzählte sehr schöne tiefsinnige Nachdichtungen von deutschen Märchen, zum Beispiel von Dornröschen (mit bürgerlichem Namen Rose Dorn).
Doch wo Schönheit ist, sind auch Schönheitsfehler. Beim Sezieren der politischen Krise der SPD greift Richling zum Vorlesen aus seinem Manuskript. Für einen ausgewiesenen Star des politischen Kabaretts liegt es unter dem Standard, die Conference vom Blatt zu lesen. Was im Kopf nicht sitzt, gehört nicht auf die Bühne. Ein Problem ist auch die Rolle der Musiker. Die sind Virtuosen, welche mit jedem ihrer Stücke oder Arrangements die Zuhörer entzücken. Aber (Neusprech) im »Format» des Kabaretts erscheinen sie als Statisten und agieren unter ihrem Wert. Sie sind nicht die Texter, sie »umrahmen» die Kabarettisten. Im Kabarett aber kommt es auf Lacher an. Die kommen eben von den Schauspielern. Wenn es keinem auffällt, ist es ja gut und das Kabarett-Konzert wird ein neuer «Renner». Theorie hin und her – der Abend war gelungen. Die Zeit schreit nach Satire. Hängen bleibt Matthias Richlings Schlusssequenz: Die Politiker sollen endlich wieder zur Politik finden. Zwischen den Zeilen: Diplomatie, verhandeln, Frieden schließen.
Nächstes Kabarett-Konzert: 12.12.2022, 20 Uhr, Schlosspark Theater, »DSOblech» mit Christian Ehring.