Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Sie wird fünfzig und ist erst siebzehn. Dieser passend – unpassende Vergleich drängt sich auf. Siebzehn ist die Konzertmeisterin, Noa Lea Weckner, Schülerin am Humboldt-Gymnasium in Berlin. Fünfzig ist ihr Orchester, die Deutsche Streicherphilharmonie, gegründet 1973 in Berlin, Hauptstadt der DDR. Das Orchester besteht aus 60 Musikerinnen und Musikern im Alter von elf bis 20 Jahren, sämtlich Spitzentalente der deutschen Musikschulen, die sich über ein Probespiel für das Orchester qualifiziert haben. Es ist das jüngste Bundesauswahlorchester, das sich zum Bundesjugendorchester und zur Jungen Deutschen Philharmonie gesellt. Geführt wird es von Wolfgang Hentrich, Erster Konzertmeister der Dresdner Philharmonie, der die Leitung seit 2013 innehat. Er hatte sie von Michael Sanderling übernommen, der das Orchester ebenfalls zehn Jahre geleitet hatte.
Ein Marathon
Bereits zu Beginn des Jahres wurden die Musiker im Kulturpalast Dresden, im Gewandhaus Leipzig und im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins umjubelt. Am vergangenen Sonntag nun endete ihre Jubiläumstournee, die sie nach Weimar, Berlin, Kassel und Neuenhagen bei Berlin geführt hatte. Geleitet wurden die Konzerte von Wolfgang Hentrich. Im Eröfnungskonzert in Weimar stand aus alter Freundschaft der Ehrendirigent Michael Sanderling am Pult. Die nächste Tournee führt im Mai nach Stuttgart (20.5.), Zülpich (21.5.) und am 28.5. nach Zwickau, zum Treffen »60 Jahre Jugend musiziert». Ein Marathon für die Streicherphilharmonie.
Das Festkonzert zum Jubiläum fand am 27. April im Haus des Rundfunks in Berlin statt. Glanzstücke waren Zwei Tänze für Harfe und Streichorchester von Claude Debussy, gespielt von Maud Edenwald, Solo-Harfenistin des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, und das Konzert für Oboe und Streichorchester von Malcolm Arnold, gespielt vom Solo-Oboisten des Rundfunk-Sinfonieorchesters, Mariano Esteban Barco. Musikalische Kostbarkeiten waren Rumänische Volkstänze von Béla Bartók und die Suite für Streichorchester von Leos Janácek. Die Entdeckung des Abends wurde die Partita für Streichorchester von Gideon Klein. Der Komponist war als Jude im KZ Theresienstadt interniert und musste in der Lagerkapelle die »Großherzigkeit» der Nazis demonstrieren. In den Klauen der SS fand er die Kraft, das Streichtrio zu komponieren, das Vojtech Saudek für Streichorchester bearbeitete. Gideon Klein wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und starb dort am 27. Januar 1945, am Tage der Befreiung durch die Rote Armee, mit 26 Jahren. Er erlebte die Aufführung des Werkes nie, das die Zuhörer im Konzertsaal tief berührte.
Seine dramatische Lyrik lehnt sich gegen das Auslöschen durch Vergessen auf. Das Manuskript hatte eine Freundin Kleins bewahrt, die das Lager Theresienstadt überlebte.
Die Geschichte
Das Jubiläum der Deutschen Streicherphilharmonue ist ein Ereignis für sich. Hervorgegangen ist es aus der DDR. Für die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Berlin war ein Festivalorchester gesucht worden. Dafür bot sich das Zentrale Jugendorchester der Musikschulen der DDR an, das der legendäre Chordirigent Helmut Koch im Hinblick auf die nahende Aufgabe gegründet hatte. Das Orchester wurde dank seiner Qualität erhalten als Rundfunk-Musikschulorchester unter Wolf-Dieter Hauschild und Jörg-Peter Weigle.Von anfang an übernahm des Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin die Patenschaft, die bis heute gepflegt wird, indem Musiker des Orchesters die Stimmgruppen betreuen. Als mit der »Wende» alle Gewissheiten ins Wanken gerieten, besaß der Verband deutscher Musikschulen die Weisheit, das Orchester als Deutsches Musikschulorchester in seine Trägerschaft zu übernehmen, mit Sitz in Bonn. Als Streichorchester wurde es von Hans-Martin Schneidt (1995 – 2002), Michael Sanderling (2003 – 2013) und Wolfgang Hentrich (seit 2013) geprägt. Es gastiert in Konzertsälen in Deutschland, Östereich, Luxemburg, Polen, Norwegen, China und Ekuador. Seit Bestehen haben 1000 Musikerinnen und Musiker diese »Schule» durchlaufen. Viele wurden Berufsmusiker und spielen in namhaften Orchestern in Europa und in den USA.
Der Vergleich 50 zu 17 lässt ermessen, wie viel Leistung, Fleiß, Hingabe, Begeisterung und Verzweiflung die Arbeit aller im und am Orchester bedeutet hat – der Arbeit von Schülern, Lehrern, Musikern, Dirigenten, Paten, Technikern und Verwaltungsleuten.
Zwei Perlen
Ein historisches Zusammentreffen im Jahre 2023 ist das 100jährige Bestehen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und das 50jährige Jubiläum der Deutschen Streicherphilharmonie, dies zwei Perlen aus dem Schmuck der Musikkultur der DDR. Am 29. Oktober dieses Jahres werden beide Orchester gemeinsam unter Leitung von Wladimir Jurowski in der Berliner Philharmonie auftreten.
Wer wissen will, wie die deutsche Vereinigung im ganzen hätte funktionieren können, möge darüber nachsinnen, wenn das Konzert im Radio wiederholt wird.
Anmerkungen:
Eine kürzere Fassung des Beitrags von Sigurd Schulze erschien am 5. Mai 2023 in „junge Welt“.
Siehe auch die Beiträge
- Doppeltes Jubiläum – Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin begeht am 19. November 2021 seinen 75. Geburtstag von Sigurd Schulze und
- Dokumentation: Offener Brief an die Bundeskanzlerin und den Berliner Senat
im KULTUREXPRESSO.