Wenn der Haussegen schief hängt – Islandian Beauty oder die tödlichen Abgründe einer isländischen Vorstadt im Film „Under The Tree“

Szene aus dem Film "Under the tree" von Hafsteinn Gunnar Sigurðsson. © Netop Films

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). „Wenn der Haussegen schief hängt“, so sagt ein Sprichwort von Gerd W. Heyse , „sollte man nicht versuchen, die Wände nach ihm auszurichten.“ Das gilt auch für einen Streit und Nachbarn.

Unter den Flachdächern einer kleinbürgerlichen Reihenhaussiedlung in einer Vorstadt von Reykjavik, in der irgendwie alles gleich aussieht, die Hecken wie die Rasen akkurat geschoren werden wie die Haare, die gewaschen werden wie die Autos und umgekehrt, rumort es.

Dort, im Garten von Inga und Baldvin, wächst ein Baum. Scheinbar seinetwegen liegen die Nerven ihrer Nachbarn blank. Grünzeug wirft einen großen Schatten, der es bis weit auf die Terrasse der Nachbarn schafft. Weil Inga nicht will, wie sie soll, bleibt der Baum und die Aussicht auf blasse Haut brutzelnde Sonne getrübt.

Ihr Sohn Atli hat auch Probleme, aber andere. Schuld ist ein selbstgedrehtes Sex-Filmchen mit seiner Ex, die zum Ehekrach mit seiner Frau führt. „Er filmt sich selbst beim Sex mit anderen Frauen und onaniert beim nachträglichen Anschauen der Videos“, erklärt seine Ex vor versammelter Gemeinschaft in ihrem Haus, wo der Segen auch schief hängt, weil andere zu frivol und zu laut Ficken. Die offensichtlichen Außenseiter jedoch finden ihre Fickerei normal, also ihr eigenes Triebleben und das von Atli auch. Toll. Das Video ist übrigens älter und wurde vor der neuen Beziehung, mit der Atli ein Kind gezeugt hat, gedreht. Doch noch immer ist von einem „emotionalen Hintergehen“ die Rede. Ganz schön gaga, oder?

Atli muss zurück ins Elternhaus ziehen, genauer: in den Garten. Dort darf er unter dem Schatten werfenden Baum zelten.

Im idyllischen Vorort fliegen längst die Fetzen und Hundescheiße wird über die Hecke geworfen. Auch Autoreifen werden zerstochen. Doch das kleinbürgerliche Gezänk, ausgelöst durch die verbiesterte alte Inge wächst sich zu einem Kleinkrieg aus. Hinzu kommt noch eine kleine Kindesentführung durch Atli. Die augenscheinliche Harmonie, die Fassade der Kleinbürger beginnt zu bröckeln und gerät aus den Fugen.

Falsche Versprechungen, falsche Vorstellungen von sich und der Welt und jede Menge Falschheiten pflastern die Wege der in Wut geratenen Kleingeister. Überwachungskameras werden angebracht und aneinander vorbei gesehen.

Viele scheinen ihren Verstand verloren zu haben. Längst geht es nicht mehr nur um einen Baum oder ums Sorgerecht. Der Film zeigt eine durchgedreht Mutter, einer verlassener Sohn und jede Menge Irrungen und Wirrungen.

Dann ist auch noch Schäferhund Askor weg. Der taucht schnell wieder vor der Haustür von Herrchen und Frauchen auf: ausgestopft.

Schwarzer Humor steckt in „Unter The Tree“ von Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, dennoch ist der 89 Minuten lange Spielfilm keine Komödien, sondern ein sozialkritischer, ein gesellschaftskritischer Film. Beinahe so etwas wie Islandian Beauty.

Daher stecken auch Lebensweisheit in der Erzähung. Das Wertvollste das wir haben? Die Antwort geben Atlis Vater und Frau zu Gehör: „Ein Kind hat das Recht, beide Eltern zu lieben und von beiden geliebt zu werden, auch wenn die Eltern einander nicht mehr lieben.“ Die Trennung ist schmerzhaft.

Am Ende wird nicht nur eine Beziehung gefällt und ein Baum. Die Geschichte bietet Blood Splatter in Island. Zwei alte Männer, die Haus an Haus wohnten, liefern sich in einem ihrer Keller ihre letzte Schlacht. Ausgestopft werden sie aber nicht. Außerdem kommt die Katze wieder.

Filmografische Angaben

  • Originaltitel: Under The Tree
  • Deutscher Titel: Unter The Tree
  • Originalsprache: Englisch
  • Staat: Island
  • Jahr: 2018
  • Regie: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson
  • Drehbuch: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson
  • Kamera: Monika Lenczewska
  • Musik: Daniel Bjarnason
  • Darsteller: Steinþór Hróar Steinþórsson (Atli), Edda Björgvinsdóttir (Inga), Sigurður Sigurjónsson (Baldvin), Þorsteinn Bachman (Konrad), Lára Jóhanna Jónsdóttir (Agnes), Selma Björnsdóttir (Eybjorg)
  • Laufzeit: 89 Minuten
  • Bildformat: Cinemascope, 1:2,35
  • Altersfreigabe: FSK 12
  • Kinostart: 16.5.2019
  • Premiere: am 31. August 2017 in Venedig
  • Verleih BRD: Farbfilm Verleih

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