Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). „Kartonage“ von Yade Yasemin Önder ist eine Groteske mit tiefschwarzem Humor, in der die Worte rasiermesserscharf schneiden. Es gibt viel zu lachen in Franz Xaver Mayrs Inszenierung vom Wiener Burgtheater. Das ist vor allem der hinreißenden Komödiantin Petra Morzé zu verdanken, die Pointen wie Pfeile abzuschießen versteht und als Monster-Mutter die Szene beherrscht, wobei die auch ein zutiefst gedemütigtes Wesen ist, in dem die Rachsucht gefährlich brodelt.
Seit 16 Jahren lebt das Ehepaar Werner in einem Karton ohne Türen und Fenster. Bühnenbildner Michael Flück hat das hervorragend anschaulich gemacht. Es gibt nur einen Spion, durch den Herr Werner gelegentlich die Leute draußen beobachtet. nennt Frau Werner die Einrichtung des Wohnraums. Die Werners haben sich dort verschanzt, nachdem ihre Tochter Rosalie ihnen Schande gemacht hat und sie sich im Dorf nicht mehr sehen lassen mögen.
Rosalie (Irina Sulayer) wollte weg aus ihrem Zuhause, in dem ihr Vater sie in einen Karton sperrte, wenn sie nicht brav war. In Filmaufnahmen ist zu sehen, wie die Fünfzehnjährige mit ihrer Freundin Ella (Marta Kizyma) herum lungert, raucht, trinkt, schlechte Erfahrungen mit Jungen macht und schließlich mit einem geklauten Auto auf dem Weg in ein besseres Leben ist. Nach kurzer Fahrt verursacht Ella einen Unfall, bei dem sie zu Tode kommt, und Rosalie verschwindet.
Sechzehn Jahre später stürzt Rosalie in den Karton, in den ihre Eltern sich eingesperrt haben. Rosalie ist verletzt, hat eine blutende Wunde am Knie, aber das interessiert ihre Eltern ebenso wenig wie die Frage, woher die Tochter kommt und was sie in den vergangenen sechzehn Jahren gemacht hat. Frau Werner hat vollauf zu tun mit ihrer Hauptbeschäftigung, dem Kochen von Marillenmarmelade. Sie und ihr Mann haben nur Vorwürfe für die Tochter, die den guten Ruf der Familie ruiniert hat.
„Die muss weg“, sagt Herr Werner (Bernd Birkhahn), der schwerfällig herumtapert und sich gelegentlich altersgeil an seiner angewiderten Gemahlin zu schaffen macht. Kostümbildner Korbinian Schmidt hat den Eheleuten durch Ganzkörperanzüge, über denen sie ihre spießige Kleidung tragen, ein groteskes Aussehen verpasst.
Rosalie will mit ihren Eltern reden, was jedoch unmöglich ist. Vor allem für Frau Werner ist jede verbale Äußerung einer anderen Person ein Angriff, der sofort pariert und zurückgeschlagen werden muss. Es gibt keine Gespräche, nur Worte und Widerworte. „Im Zweifel ist man stets dagegen“ sagt Frau Werner, die nur klare Aussagen und kein Nachdenken kennt.
Mit dem Auftauchen der Tochter bei ihren Eltern treffen zwei unvereinbare Kulturen aufeinander. Rosalie begreift schnell, dass sie den Karton nun nie mehr verlassen kann. Grässliche Erinnerungen an ihre Kindheit überfallen sie. Trotzdem versucht sie immer wieder, mit ihren Eltern zu reden, vor allem, nachdem sie bemerkt hat, dass ihre Mutter heimlich den Karton verlässt.
Einen sehr spannenden Augenblick lang scheint es eine Wende zu geben, denn Herrn Werner ist aufgefallen, dass ihm Geld im Portemonnaie fehlt. Aber Frau Werner , die ihren Gemahl schon lange mit kleinen Dosen Gift in der Marillenmarmelade manipuliert hat, hat nun die finale Dosis in die Konfitüre gemischt, ihr Ehemann und ihre Tochter hauchen – nein, kotzen – ihr Leben aus und alles bleibt im Karton.
Yade Aysemir Önder, 1985 in Wiesbaden geboren, hat eine grandiose, sprachlich faszinierende Kritik zur Institution Familie geschrieben.