Essen/ Gelsenkirchen (Kulturexpresso). Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft – wer die nicht sieht, ist nicht nur auf den Hühneraugen blind. Ein neues Buch von Stefan Engel mit ebendiesem Titel beschreibt sie. Am Sonntag, den 12.2.2023 gibt es um 10:30 Uhr eine Buchvorstellung mit dem Autor und einem Sonntagsessen. Originell. Für Kinderbetreuung ist auch gesorgt. Wer sowieso nicht zum Gottesdienst geht, hat dann mal was Schönes vor. Nachdem jetzt wieder die meisten Karnevalszüge abgesagt wurden – diesmal aus Sicherheitsgründen – und der Spaß seit Jahren zu kurz kommt, kann man sich ja auch was Ernstes leisten. Zustimmen muss man dem Ganzen ja nicht, wir sind ein freies Land (nicht wahr?) und sollen uns eine eigene Meinung bilden.
Apropos bilden, das gelingt dann bestimmt. Am Sonntag ist man entspannt, kann zuhören und vielleicht nachdenken. Aufmerksame Leser werden das Wort, das Adjektiv „bürgerlich“ vor der Wissenschaft, hier der Naturwissenschaft, bemerkt haben. Stefan Engel, der Verfasser, der selbst sein Buch vorstellt, ist Arbeiter und Funktionär.
Vita des Autors von „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“
In der Pressemitteilung aus Essen vom 10. Februar ’23 heißt es: „Engel, Jahrgang 1954, ist gelernter Schlosser und arbeitet heute als freier Publizist. Seit 1968 ist er für den Parteiaufbau der MLPD aktiv. Von 1979 bis 2017 war er erster Vorsitzender der MLPD, bis 2016 an verantwortlicher Stelle in der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung tätig. Seit 1991 hat er von Willi Dickhut die Leitung des theoretischen Organs REVOLUTIONÄRER WEG übernommen.“ Über so lange Zeit ganz oben in der Partei, also als Parteivorsitzender tätig zu sein, ist auch in einer „kleineren“ Partei wohl nicht ohne. Vielleicht hat die Zeit nach 2017 ihm den Raum gelassen, der jetzt in dieser Veröffentlichung fruchtete.
Wie gesagt, man muss ja nicht derselben Meinung wie der Verfasser sein, kann sich an ihm reiben. Aber es ist manchmal hilfreich, wenn jemand sich seine Gedanken gemacht und in geistige Räume vorgestoßen ist, an die man noch gar nicht oder nicht so explizit gedacht hat.
Dass etwas in der Wissenschaft im Argen liegt, ist weitestgehend unstrittig. Forschung kostet Geld und das muss irgendwoher kommen. Doch wenn Forscher zum Beispiel ihre Ergebnisse nicht veröffentlichen dürfen, bloß weil sie einem Konzern, einem Unternehmen, einem Verein oder einer Stiftung nicht in den Kram passen, dann ist mancherlei verfehlt.
Zufälle gibt’s
Beispiele aus dem Medizin liegen uns empirisch aus 36 Monaten vor. Die Medizin ist ja keine Naturwissenschaft, aber die „Life Science“ arbeitet ihr zum Beispiel zu. Gentechnik ist ein heißes Thema; der Goldrausch in Klondike ist nichts dagegen. Und auch an der Schnittstelle von Politik und Medizin wird es spannend. Zufall oder nicht, am Tag der Pressemitteilung des Verlags war es nur wenige Stunden her, dass der zurzeit (noch) im Amt befindliche Gesundheitsminister Karl Lauterbach öffentlich geäußert hatte, dass viele „Corona-Maßnahmen“ Schwachsinn seien. Den genauen Wortlaut finden Sie im Netz. Nachdem der Minister vorher bereits zugab, dass die Kitaschließungen und dann, dass die Schulschließungen ein Fehler gewesen seien – was vielleicht leichter fiel, da er 2020 zu etwas riet, aber nicht die hauptsächliche Verantwortung trug – nun das.
Menschenunwürdig
Für Wolfgang Kubicki, das hochrangige Mitglied des Bundestages (MdB) und FDP-Vize, der als Anwalt gelernt hat, klar zu denken, reichte das jedenfalls, um den Bundesgesundheitsminister zum Rücktritt aufzufordern. „Einen ehrenvollen Rücktritt würde Karl Lauterbach niemand vorwerfen“, schrieb Kubicki in einer der (un-) sozialen Medien. Der stellvertretende Parteivorsitzende, der auch stellvertretender Bundestagspräsident ist und damit im gesetzgebenden Organ und im Staat ganz oben, übte scharfe Kritik an der sogenannten „Corona-Politik“. Die möglicherweise etwas ganz anderes war. Er kritisierte die vergangenen drei Jahre zurecht beißend: insbesondere bei Älteren und bei Kindern habe die Regierungspolitik schlicht – versagt. Ja, versagt. Die bewusste Angsterzeugung habe Kindern Lebenschancen genommen. Ältere, in Altenheimen zudem seien menschenunwürdig behandelt worden. Genau das war auch aus unserer Sicht eben der Fall. Menschenunwürdig. Das Ganze.
Unwissenschaftlich
Wolfgang Kubicki schreibt: „Karl Lauterbach war einer derjenigen, die daran mitgewirkt haben, kritische wissenschaftliche Stimmen auszugrenzen, Panik selbst zu schüren und die Grenzen des Verfassungsstaates zu verschieben“. „Wenn er meint, jetzt mit einer „Schwamm-drüber-Mentalität“ zur Tagesordnung übergehen zu können, dann wäre das für den demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Aufarbeitungsprozess fatal.“
Karl Lauterbach war am Donnerstagabend in der Talkshow mit Markus Lanz in den öffentlich-rechtlichen aufgetreten (ZDF). Darauf bezieht sich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki.
Beispiel für Unwissenschaftlichkeit: Corona-Maßnahmen waren Schwachsinn
In der abendlichen Sendung hatte der Minister Lauterbach selbst zum wiederholten Male große Teile der Corona-Politik kritisiert. „Was Schwachsinn gewesen ist, wenn ich so frei sprechen darf, sind diese Regeln draußen“, sagte Lauterbach. Er bezog sich dabei unter anderem auf das Verbot, ohne Maske joggen zu gehen.
Aber – aufpassen: jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen? Nach dem Motto: Ja, das war total falsch, das war Schwachsinn (Zitat Minister Lauterbach), aber egal … Ich darf weiter im Amt bleiben, weiter Schwachsinn verbreiten, habe das Sagen und werde selbstverständlich weiter überaus gut bezahlt und habe auch im Alter ausgesorgt.
Nein, das darf nicht sein. Das ging zu weit. Wenn aus Versehen irgendwo ein Brücke gebaut wird und später nie benutzt, dann war das eine einmalige im Vergleich mit den vielen zig „Corona-Milliarden“ winzige Verschwendung von Steuergeldern. Die sonst kaum niemand geschadet haben wird. Aber diesem dem ganzen Land und der ganzen Bevölkerung verursachte Schaden durch Angst- und Panikmache, gesundheitliche Schäden, Selbstmorde und die größte Wirtschaftskrise der vergangenen 150 Jahre (wenn nicht aller Zeiten) – da wird man nicht drüber hinwegsehen können. Muss Verantwortliche und Entscheider zur Verantwortung ziehen. Entscheidend.
Lauterbach: „Wenn wir die Maßnahmen nicht gemacht hätten […], wir es hätten einfach laufen lassen […], dann wären in Deutschland ungefähr eine Million Menschen gestorben an Corona.“
Mittendrin … Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft, wie sie leibt und lebt. „Wenn wir dieses Falsche nicht getan hätten, wäre es noch schlimmer geworden.“
Vorwurf: Versuch Restrenommee mit Unwahrheiten zu retten
Wolfgang Kubicki wirft ihm – völlig nachvollziehbar – vor, zu versuchen, „sein Restrenommee“ mit Unwahrheiten zu retten.
Es geht also weiter mit den Unwahrheiten. Wie 2020-2022, so heute. Unwahrheiten sind nicht nur in der Wissenschaft verpönt und verboten. Wer nicht die Wahrheit sagt, verstößt gegen die zehn Gebote. Das hat strafrechtliche Relevanz (wem die Gebote egal sind).
Kubicki hatte schon im Dezember gesagt, dass er nicht davon ausgehe, dass Lauterbach die ganze Legislaturperiode (von vier Jahren, also bis zur nächsten Wahl) im Amt bleiben werde. Das ist nur logisch.
Eine Parteigenossin sprang Lauterbach bei. Dieser würde gerade alles tun, um „strukturelle Probleme des Gesundheitssystems und Verbesserungen gerade bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen umzusetzen“. Genau. Lauterbach tut alles, um strukturelle Probleme des Gesundheitssystems umzusetzen. Ist doch Kubickis Rede.
Natürlich werden Diebe mitunter zu Sozialstunden verdonnert. Aber wenn ein notorischer Taschendieb drei Jahr lang Menschen bestohlen hat, wäre sein Verbrechen nicht dadurch gesühnt, dass dann (noch vor einer Verurteilung) mal einer alten frau über die Straße hilft. Und hier geht es nicht um Diebstahl, sondern um Schaden an Leib und Leben. Angst schädigt die Gesundheit. Das ist wissenschaftlich immer wieder bewiesen worden.
Buchvorstellung durch den Verfasser mit Sonntagsessen
Wann? Einlass: 10.00 Uhr | Beginn: 10.30 Uhr
Wo?
im Kultursaal „Horster Mitte“
Schmalhorststr. 1a/
Ecke An der Rennbahn
45899 Gelsenkirchen
Eintritt 5 Euro/ 3 Euro (erm.)
Das Sonntagsessen gestaltet sich laut Plakat so:
Im Anschluss dreierlei original Thüringer Klöße:
mit Putengeschnetzeltem 11,50 €, mit Schweinebraten 11,50 €, mit Champignonrahm-Sauce: 8,50 €
dazu jeweils einen kleinen Salat.
Essen anmelden bis spätestens zu Beginn der Veranstaltung um 10.30 Uhr. Auch hier hat man die Wahl, ja oder nein, vegetarisch oder nicht, preiswert oder teurer.
Das ist doch mal was und recht außergewöhnlich. Da man zum Mittagessen nirgendwo anders hingehen muss, könnte man sich gleich dabei, wenn man nicht den guten Manieren entsprechend und zur Förderung der Verdauung beim Essen Schweigen möchte, über die bürgerliche Naturwissenschaft unterhalten. Verschwiegen werden sollte nicht, was am Unterrand des Plakats bzw. der Einladung steht: MLPD Marxistisch-leninistische Partei Deutschland. Es ist also eine Parteiveranstaltung „am linken Rand“ von Sozialisten oder „Kommunisten“.
Immerhin: Eine Einladung aus Essen zum Essen in Gelsenkirchen, das finden wir prima. Es ist an alles gedacht.
Bibliographische Angaben: „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“
Stefan Engel, „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“, Taschenbuch, 166 Seiten, 17 Euro, ISBN: 978-3-88021-649-5; Das Buch ist auch als USB-Stick für 16 Euro zu haben oder als Paket mit dem Buch dann für 30,-
Inhaltsverzeichnis:
Aufschwung und Niedergang der bürgerlichen Naturwissenschaft
2. Die weltanschauliche Sackgasse der modernen Physik
3. Die Astrophysik zwischen Wissenschaft und Schöpfungsmythos
4. Die Biologie als »Wissenschaft vom Leben« in der Krise
5. Weltanschauliche Irrwege in der Umweltforschung
6. Die Krise des bürgerlichen Ingenieurwesens
7. Das grundlegende Dilemma der bürgerlichen Medizin
8. Der Mythos der »alternativen Medizin«
9. Die moderne Psychologie zwischen Dichtung und Wahrheit
10. Die Perspektiven der modernen Naturwissenschaft
Der Verlag teilt mit: Populäre Bücher zur Naturwissenschaft erfreuten sich wachsender Beliebtheit. „Mangelware sind aber bislang fundierte kritische Stimmen zu den weltanschaulichen Fragen und Studien vom marxistisch-leninistischen Standpunkt.“ Diese Lücke möchte man nun schließen.
Die Naturwissenschaftler genießen in der bürgerlichen Gesellschaft allgemein hohes Ansehen, weil sie scheinbar unpolitisch, unanfechtbar und nur dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet sind
Stefan Engel formuliert einleitend: „Die Naturwissenschaftler genießen in der bürgerlichen Gesellschaft allgemein hohes Ansehen, weil sie scheinbar unpolitisch, unanfechtbar und nur dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet sind. Mit dem Vordringen des Positivismus und Pragmatismus haben die Naturwissenschaften jedoch erheblich an Wissenschaftlichkeit eingebüßt und sind in eine Krise geraten. Diese Streitschrift soll das materialistisch begründete freie Denken in der Arbeiterklasse wiederbeleben. Ohne sich von den Fesseln des Idealismus und der Metaphysik zu befreien, wird die Menschheit nicht in die Lage kommen, die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaften für den gesellschaftlichen Fortschritt zu nutzen. So ist dieses Buch auch ein Muss für jede streitbare Wissenschaftlerin und jeden streitbaren Wissenschaftler. Es dient dem Ziel, dem wissenschaftlichen Sozialismus und seiner dialektisch-materialistischen Methode zu neuem Ansehen zu verhelfen.“
Soweit der Verfasser, mit dem weder Sie noch wir einer Meinung zu sein brauchen. Quantenphysik hat gezeigt, dass der Anteil der Materie in der Materie winzig klein ist. (Der „Rest“ von 99,98% ist Energie.) Die Heisenbergsche Unschärfetheorie sollte zu denken geben. Und viele Physiker sind äußerst „esoterisch“ und dem echten, mystischen Gläubigen näher als manchem Biologen oder Gentechniker. Ob also die Lösung des jetzigen Dilemmas durch noch mehr Materialismus erfolgen kann, wie der aus dieser weltanschaulichen Ecke stammende Schlosser selbstverständlich annimmt, oder eher in noch mehr selbständigen Denken, die Eigenarten des Gehirns berücksichtigend, die die bürgerliche Hirnforschung bisher zutage förderte, das möge jeder selbst entscheiden und möge sich zeigen.
Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft: Produziert Wissenschaft nur Wahrheit?
Denn das Volk dürstet nach der Wahrheit. Und hat sich schon zu viele Bären aufbinden lassen.
Dass Forschungsergebnisse nicht ausschließlich und in erster Linie zum Wohle der Bevölkerung eingesetzt werden, sondern auf jeden Fall erstmal zum Geld verdienen dienen, ist Teil dieser Wahrheit, die sich immer deutlicher manifestiert.
In der Analyse hat Engel jedenfalls den Finger in die Wunde gelegt. Ob er die richtige Salbe hat? Dass ausgerechnet so ein Materialist dann noch den Namen ‚Engel‘ trägt, ist einer der zunächst unauflösbar scheinenden Widersprüche des Lebens.