Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Eine „Kindertragödie“ nannte Frank Wedekind sein Stück „Frühlings Erwachen“, das Max Reinhardt 1906 am Deutschen Theater uraufführte. Darin geißelt Wedekind die Unterdrückung pubertierender Jugendlicher der Kaiserzeit durch ein reaktionäres, auf geistiger und körperlicher Züchtigung beruhendes Erziehungssystem, und eine prüde Sexualmoral der Lehrer und Eltern. Die „Kinder“, Gymnasiasten und Teenager, erleben ihr Erwachsenwerden, das Empfinden „männlicher Regungen“ und weiblicher Körperlichkeit, das Bedürfnis zum Mitreden, nicht als Gewinn, sondern als Schrecken der Pubertät und als Isolierung von der Welt der Erwachsenen, wo man nicht sein darf, was man ist.
Vorgeführt werden im Stück heute als veraltet empfundene Verhaltensweisen wie das schamhafte Ausweichen Moritz Stiefels vor den Aufklärungsversuchen seines Freundes Melchior Gabor, die Unfähigkeit der Mutter des Mädchens Wendla, dem Kind zu erklären, wie man Kinder zeugt, ungewollte Schwangerschaft und tödliche Abtreibung, die Einweisung Melchiors in eine „Korrektionsanstalt“ und das eifrige Vertuschen des Selbstmords Moritz Stiefels durch die Lehrerclique oder die hilflose gegenseitige Schuldzuweisung der Eltern. Eine schöne Blüte: Goethes Faust ist unanständige Lektüre.
Das wird mit Verve, komödiantischen Ideen und Freiübungen vorgeführt Der Zuschauer findet es ganz lustig, manchmal spannend, aber es bleiben olle Kamellen. Der Regisseur Frank Matthus und die Maskenbildnerin Jana Fahrbach finden es im Programmheft doch „auf eine gewisse Art hochaktuell“, nicht ganz dieselben Probleme wie heute, aber weiterhin als die „grundlegenden Schwierigkeiten“ der Selbstfindung der jungen Menschen in der Pubertät, die Angst vor Scheitern und Enttäuschung sowie das große Problem des schulischen Leistungsdrucks und das Fehlen menschlicher Nähe in den Schulen. Heute sagt der dreijährige Enkel der Zimmerwirte zum Opa „du Penis“ und zur Oma „du Vagina“. Das Thema hat sich erledigt.
Nun zaubert Matthus auf bewährte Weise einen Monolog eines Medienmanagers von „Moogle-Systems“ hinein, der die Abhängigkeit der Jugend von den „Medien“ und die neue Art der Manipulation der Persönlichkeit aufzeigt. Die Doppelrolle von Produzent und Verbraucher wird zwar verzerrt, aber es ist viel Wahres dran und der aktuelle Bezug ist hergestellt.
Es ist nicht schwer, (Laien-) Schauspielern zu erklären oder sie es sich selbst einreden zu lassen, dass das gegenwärtige Stück und die eigene Rolle völlig real, stimmig und ganz wichtig sind. So wird alles mit Begeisterung gespielt werden, auch wenn der Zusammenhang mit dem Heute „hinkt“. Wie immer sind in Netzeband die schauspielerischen Leistungen, die technische Perfektion des Spiels mit Masken und eingespieltem Dialog sowie die Feinheit der Masken mitreißend. Doch bleibt es ein Trost über die sehr gewollte Aktualisierung antiquierter Verhältnisse. Das Theater liegt fernab der Großstädte. Auf dem Lande hat man andere Probleme. Doch sind zum Beispiel in Brandenburg Neonaziumtriebe und Ausländerhass brennende Probleme. Das Durchleben der Pubertät wird immer und überall ein Problem mit sich wandelnden gesellschaftlichen Zwängen sein. Jene Schüler, die bei „Fridays for Future“ auf die Straße gehen, sind genau die Altersgruppe wie in Wedekinds Stück. Sind für diese die Probleme der Pubertät so drängend wie die Sorge um ihre Zukunft in der Klimakatastrophe? Und wie steht es mit Kindern eingewanderter Nationalitäten, die ihre Moralvorstellungen und Persönlichkeitsbilder mitbringen? Bei Wedekind sind es noch „weiße“ Probleme.
Mit der Aufführung am 30. Juli wurde das 25jährige Bestehen des Theatersommers Netzeband gefeiert. 85.000 Besucher hat er in den 25 Jahren verzeichnet. 16 Stücke für Kinder und Erwachsene wurden allein als Synchrontheater inszeniert: Shakespeare, Goethe, Moliere, Brecht, Grabbe, Dylon Thomas, Garcia Lorca und viele andere. Was nicht gespielt wurde, waren außer Brecht Stücke von DDR-Autoren – von mir wiederholt angemerkt. Peter Hacks, Heiner Müller, Inge Müller, Erwin Strittmatter, Ulrich Plenzdorf, Rudi Strahl, Hedda Zinner, Volker Braun, Helmut Baierl und andere haben das Leben in der DDR beschrieben oder reflektiert. Die Landtagspräsidentin von Brandenburg, Ulrike Liedtke (SPD), hat an die Veränderungen in den 25 Jahren erinnert. Es wird Zeit, dass sich der Theatersommer Netzeband dem Ernst des „Lebens auf dem Lande“ (so der Untertitel von Heiner Müllers Stück „Die Umsiedlerin“) zuwendet, DDR-Stücke spielt und der Zeit und den Menschen den Spiegel vorhält: Wie haben wir gelebt, wie leben wir heute?
Um bei „Frühlings Erwachen“ zu bleiben: Wedekind hat mit der Figur Moritz Stiefel, seinen Zweifeln und Selbstzweifeln und seinem Selbstmord nicht zufällig auf Goethes jungen Werther angespielt. Wie wäre es also mit Ulrich Plenzdorfs Stück „Die neuen Leiden des jungen W.“? Auch sein Held Edgar Wibeau sieht in seinem Leben keinen Sinn mehr – gut oder schlecht, richtig oder falsch? Wie haben die Eltern und Großeltern der heutigen Jugend gelebt? Wie haben sie sich 1989 entschieden? Wo stehen sie heute?
Die DDR-Theater hatten den Mut, die Frage nach dem Sinn des Lebens in ihrem Lande zu stellen. Da hatten wir Lessings „Theater als moralische Anstalt“. Hätte Frank Matthus den Mut. seine Zuschauer vor diese Frage zu stellen? Zum Beispiel: Bodenreform oder gleich Kolchose – die Frage in Heiner Müllers Stück „Die Umsiedlerin“. Wen würde das heute aufregen und warum? Wo ist das Bodenreformland geblieben? Was würden die Autoritäten Im Land und in der Gemeinde dazu sagen? Das deutsche Theater löste seine Impulse in Mannheim, in Meiningen, in Weimar aus. Warum nicht in Netzeband?
Weitere Vorstellungen: 13., 14., 20., 21., 27. Und 28. 8., jeweils um 20.30 Uhr.