Dokumentarfilmfestival Thessaloniki rückt Flüchtlingskrise in Perspektive

© Foto: Florian Schmitz

Thessaloniki, Griechenland (Kulturexpresso). Am 20. März ist in Thessaloniki das 18. Dokumentarfilmfestival zu Ende gegangen. Ein thematischer Fokus in diesem Jahr war die Flüchtlingskrise. Deutlich wurde vor allem eins: Das Phänomen existiert nicht erst seit letztem Sommer. Ein Rückblick gegen das Vergessen.

Das Olympion ist das Zentrum des Dokumentarfilmfestvials in Thessaloniki. © EUdysseus, Foto: Florian Schmitz
Thessaloniki liegt nur eine knappe Autostunde von Idomeni entfernt. Etwa 15.000 Flüchtlinge harren dort aus und wollen die Hoffnung auf die Öffnung der Grenze nicht aufgeben; nicht nach allem, was sie auf sich genommen, um bis dorthin zu gelangen. Die Welt hat die Augen und Kameras auf sie gerichtet.

Auch auf dem 18. Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki sind sie nicht vergessen worden. Dabei wurde aber vor allem an die zeitlichen Dimensionen der Flüchtlingskrise erinnert, an tragische Geschehnisse und symbolische Orte, die im kollektiven Gedächtnis bereits keine Rolle mehr spielen.

Von Idomeni zurück nach Lampedusa

Die Situation für die Flüchtlinge in Idomeni wird immer kritischer. Sie harren aus in Regen und Kälte und hoffen darauf, einen Ort zu erreichen, an dem sie sich in Sicherheit wiegen und mit neuen Perspektiven ein besseren Leben beginnen können. In Europa tut man gerade so, als sei das Problem ein Novum. Dabei zeigen die Beiträge auf dem Dokumentarfilmfestival vor allem, dass man bereits in der Vergangenheit versäumt hat, den Kontinent auf diese Herausforderung vorzubereiten.

Der Film „Winter in Lampedusa“ des Österreichers Jakob Brosman porträtiert das Leben auf einer Insel, die im Oktober 2013 traurige Schlagzeilen machte, als beinahe 400 Menschen ertranken. Wie so viele versuchten auch sie von der etwa 110 km entfernten afrikanischen Küste auf europäischen Boden zu gelangen. Brosman gelingt es den ohnehin schon schweren Inselalltag ungekünstelt mit der Flüchtlingskrise zu verbinden. Er lässt eine Lampeduserin zu Wort kommen, die beklagt, warum man sie interviewe, warum man sie zur Protagonistin mache. Seit Jahren ertränken hier Menschen.

Künstler sammeln auf der Hafenmüllhalde Überbleibsel aus dem Wasser: Kleidungsstücke, Babyflaschen für Milch, Geld, Briefe, Fotos – Erinnerungsstücke von Menschen, von denen man nicht weiß, ob sie die Überfahrt nach Europa überlebt haben. „Wir sind die einzigen, die um die Toten trauern“, beschreibt die Bürgermeisterin von Lampedusa das Vergessen nach dem Medienhype. Eine andere Inselbewohnering erklärt vor den Gräbern der Ertrunkenen: „Wir müssen die Geschichte dieser Menschen für uns aufbewahren. Nicht für sie, für uns, damit wir uns überhaupt als Menschen definieren können.“

Das Versagen Europas heißt Dublin

Der Film „I am Dublin“ zeigt die Geschichte von Ahmed. Auch er erreicht Europa Lampedusa. Er hinterlässt dort seine Fingerabdrücke. Nach den Dubliner Abkommen bedeutet das: Ahmed ist Italiens Problem. Dort sieht er keine Perspektive und flüchtet über Finnland nach Schweden. Es beginnt eine Odyssee der Illegalität. Er taucht unter in Stockholm. Dann meldet er sich erneut bei den Behörden und er wird nach Finnland abgeschoben. Es ist eine Existenz ohne Leben. Die Dublin-Abkommen halten keine Lösungen parat.

Auf besondere Weise wurde dies auch im dänischen Beitrag „Dreaming of Denmark“ deutlich. Der traumatisierte 15-jähriger Wasiullah aus Afghanistan schafft es allein nach Kopenhagen. Zu Hause wurde er missbraucht und erniedrigt. In einer Einrichtung für minderjährige Flüchtlinge findet er Rückhalt, lernt fließend Dänisch und schließt Freundschaften. Dann soll er abgeschoben werden und flüchtet nach Norditalien. Bei der dortigen Caritas sagt man ihm: „Unsere Einrichtungen sind voll. Über deinen Fall wird in frühestens einem halben Jahr entschieden. Das bedeutet, dass Du den ganzen Winter über draußen bist.“

Immer weiter driftet der Junge in psychotische Zustände ab, kann sich nicht mehr erinnern, wer seine Freunde sind, erkennt den Regisseuren nicht wieder. Während er anfänglich in Italien noch von Dänemark träumt und ein Freund aus Kopenhagen ihn besuchen kommt, verschließt er sich im Verlauf immer weiter in sich selbst. Der Regisseur fragt ihn: „Willst Du noch nach Dänemark?“ Verwirrt antwortet er: „Warum? Warum soll ich nach Dänemark?“ Wasiullahs Vergessen ist nichts anderes als eine Waffe gegen den permanenten Schmerz zerstörter Hoffnungen. Es ist ein Schutzmechanismus, der die Demütigungen seines Lebens tief in der Seele vergräbt.

Was ist ein Flüchtling?

Die Dokumentaristen leisten noch einen weiteren, entscheidenden Beitrag zum Diskurs um den Umgang mit Flüchtlingen. Sie erinnern daran, dass der Flüchtlingsstrom keine homogene Masse von Andersgläubigen ist, sondern ein Komplex aus vielen verschiedenen Ethnien und Gläubigen, die aus verschiedenen Gründen die beschwerliche Reise nach Europa antreten. Der griechische Beitrag „Dreaming of Life“ begleitet Flüchtende auf dem Weg von Lesbos nach Idomeni und fokussiert so die jüngste Geschichte der Flüchtlingskrise.

Dabei brachte der Film interessante Aspekte zur Sprache. Beispielsweise zahlen Flüchtlinge überdurchschnittlich viel für die Fähre nach Athen und werden in der Regel in einem überteuerten Bus von dort bis an die Grenze gebracht. Auch kam zur Sprache, dass nicht alle Flüchtlinge gleich sind, dass es Konfliktpotenzial unter den vielen ethnischen Gruppierungen gibt und dass sie auf dem Weg durch Europa unterschiedlich behandelt werden. So wurden Bilder von Camps auf Lesbos gezeigt, die bestimmte Nationalitäten offensichtlich bevorzugen und besser unterbringen.

Der Mythos vom Wirtschaftsflüchtling

Und während man zur eigenen Beruhigung über sichere Herkunftsland spricht und die konservativen Stimmen am rechten Rand abschätzig von Wirtschaftsflüchtlingen reden, geht der Film „France Is Our Mother Country“ des kambodschanischen Regisseuren Rithy Panh zurück in der Zeit. Thema ist die französische Kolonialisierung Indochinas. Aus Archivmaterial zusammengeschnitten führt der Regisseur wortlos durch den Film. Wie beim Stummfilm erscheinen Kommentare aus der Zeit, die erst zwischen Rassismus und Naivität oszillieren, dann von Neugierde in ein Überlegenheitsgefühl übergehen und später die deutlichen Schriftzüge imperialistischer Narrative tragen.

Nach und nach enttarnt der Film die französischen Gäste, die dem Leben im besetzten Land zunächst mit arroganter Erheiterung begegnen, als böse Eindringlinge. Parallel dazu verkünden propagandistisch Nachrichten die heil- und zivilisationsbringende Rolle des Vaterlandes Frankreich. Die Bilder dazu sprechen eine andere Sprache: Sklaverei, Zerstörung, Rohstoffkrieg, Zwangsprostitution und Ausbeutung.

Der Film beschreibt eine der Geburtswehen der großen Welle ökonomischer Flüchtlinge. Die Bilder sind von erschreckender Aktualität. Bis auf den sogenannten Fortschritt zeigen sie im Wesentlichen dieselbe Situation wie heute. Urbanisierung, Industrialisierung und Technisierung, die drei Säulen der modernen Zivilisation, haben zu Leid und Elend geführt. Der Film endet in Bildern des Krieges. Die Narrative der Zivilisation, die Hoffnung auf ein gutes Ende mit dem „Noble Savage“ erstickt im Bombenhagel.

Keine Erkenntnis an der Oberfläche

Wie auch in den Vorjahren hat Thessaloniki gezeigt, dass es zu den großen Events der Dokumentarfilmszene gehört. Festivalleiter Dimitris Eipides wies bereits während der Eröffnungsveranstaltung auf die globalen Ausmaße der Flüchtlingssituation hin. Menelaos Karamaghiolis, einer der bekanntesten Dokumentaristen Griechenlands, sieht im Medium Dokumentarfilm eine wesentliche Funktion: „Die Welt wird von Bildern überschwemmt, die immer nur einen kleinen Ausschnitt der Realität widerspiegeln. Der Dokumentarfilm ist anders. Er vermag eine Situation ganzheitlich erfahrbar zu machen.“

Es ist diese Ganzheitlichkeit, die das Festival zu einem Ort der Erkenntnis werden lässt. Es ersetzt nicht die tägliche Berichterstattung. Doch der Vorteil des Dokumentarfilms liegt in seiner Entschleunigung. Die rasante Geschwindigkeit, mit der Nachrichten Themengebiete aufgreifen, abarbeiten und dann vergessen, wird der Komplexität unsere Welt nicht gerecht. Dokumentarfilme und die Art und Weise, wie sie auf Festivals regelrecht kuratiert werden, brechen die Berichte der Leitmedien auf und bringen sie zurück in den Kontext. Für den Zuschauer hat dies vor allem eine Erkenntnis: Die strukturellen Probleme unserer Zeit kennen weder geographische noch zeitliche Begrenzungen.

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