Entzaubert – Katie Mitchells Blick in „Ophelias Zimmer“ in der Berliner Schaubühne

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Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Sie ist ja nur ein Konstrukt, eine Fantasiegestalt, der Shakespeare einen Namen und ein Schicksal zugeschrieben hat. Aber sie hat sich zum Mythos entwickelt, die zauberhafte Ophelia mit ihrem poetischen Wahnsinn, die als schöne, blumengeschmückte Wasserleiche endet.

Die prominente Regisseurin Katie Mitchell, regelmäßig zu Gast in der Schaubühne, lässt Ophelia hinter den Kulissen des Shakespeare-Dramas zugrunde gehen: Eine junge Frau, hilflos der Grausamkeit und Ignoranz ihrer Mitmenschen ausgeliefert. Dabei will niemand ihr etwas Böses. Sie wird geliebt, für reizend befunden, hat keine Feinde, nicht einmal eine Rivalin um Hamlets Gunst. Fünf Auftritte hat sie in „Hamlet“, in denen kaum etwas über ihre Persönlichkeit zu erfahren ist. Die ZuschauerInnen sehen sie mit den Augen der anderen.

Wie „Hamlet“ hat auch „Ophelias Zimmer“ fünf Akte. Die junge britische Dramatikerin Alice Birch, die hier erstmals einem deutschen Publikum vorgestellt wird, zeigt Ophelia zwischen ihren Auftritten im Shakespeare-Drama, verdeutlicht, was in dieser Frau vorgeht, die als Projektionsfläche dient und doch ein fühlendes menschliches Wesen ist.

Die fünf Akte des von Gerhild Steinbuch ins Deutsche übersetzten Stücks sind betitelt mit den fünf medizinisch festgestellten Phasen beim Tod durch Ertrinken, der ein Erstickungstod ist. Ophelia stirbt hier nicht erst im Wasser, sondern wird langsam und qualvoll ihrer Energie und Lebenskraft beraubt. Eigentlich wird sie ermordet.

Einziger Schauplatz ist Ophelias Zimmer, ein Ort der Verbannung, der zum Gefängnis, zur Todeszelle wird. Bühnenbildnerin Chloe Lamford, auch verantwortlich für die Kostüme, hat ihn sparsam ausgestattet mit Eisenbett, Nachtschränkchen, Toilettentisch und einem Kleiderständer. Auf dem Tisch steht der Radiorecorder, in den Ophelia Kassetten einlegt, die Briefe, die Hamlet ihr täglich schickt. Eine genaue zeitliche Zuordnung findet nicht statt. Ophelia ist der Traum von unschuldiger, verführerischer Weiblichkeit, der über Jahrhunderte hinweg in den Köpfen von Männern überlebt hat und so auch heute noch, trotz Gleichberechtigung, unsere Gesellschaft beeinflusst.

Verständlich ist das Stück nur bei genauer Kenntnis des „Hamlet“. Alice Birch und Katie Mitchell erzählen nicht nach, was Ophelia dort erlebt, sie zeigen die Auswirkungen dieser Erlebnisse und beziehen sich auf Ophelias Auftritte in Shakespeares Drama. „Ophelias Zimmer“ ließe sich mit Thomas Ostermeiers „Hamlet“-Inszenierung kombinieren.
Hier wie dort spielt Jenny König die Ophelia, bei Ostermeier zugleich Gertrud, mit Hamlets Augen gesehen, für den jede Frau seine Mutter ist.

Wie bei Thomas Ostermeier wird auch bei Katie Mitchell Polonius nicht erstochen sondern erschossen. Hamlet schleppt den blutenden Leichnam in Ophelias Zimmer, brummt eine Entschuldigung für die versehentliche Tötung und erklärt, er habe Ophelias Vater den Hinterkopf „weggepustet“. Ein weiterer Auftritt Hamlets bezieht sich auf die 1.Szene im 2.Akt des Shakespeare-Dramas, in der Ophelia ihrem Vater berichtet, Hamlet sei in ihr Zimmer gekommen „als wär’ er aus der Hölle losgelassen, um Greuel kundzutun.“

In „Ophelias Zimmer“ stürmt Hamlet (Renato Schuch) mit einem Recorder herein, aus dem ohrenbetäubend laute Musik dröhnt, zu der Hamlet einen furchterregenden Wahnsinnstanz aufführt. Ophelia beendet diese erschreckende und bedrohliche Darbietung, indem sie mit einer entschiedenen Geste die Musik ausschaltet. Ophelia ist hier kein passives Geschöpf, das allenfalls mit wehmütigem Klagen reagiert. Sie begehrt auf, als ihr verboten wird, ihr Zimmer zu verlassen. Später verlangt sie, Hamlet zu sehen oder seine Mutter, was ihr schließlich sogar gestattet wird. Anordnungen bekommt Ophelia ausschließlich von einem Dienstmädchen (Iris Becher) übermittelt, das ihr täglich Blumen und Hamlets Briefe bringt, einer korrekten Angestellten, die für private Gespräche nicht zugänglich ist.

Ophelia hat keine Freundin, der sie sich anvertrauen könnte. Die meiste Zeit verbringt sie allein in ihrem Zimmer, wo immer das Gleiche geschieht: Ophelia holt sich Tee, stickt, liest in einem Buch, legt sich ins Bett, wo sie immer wieder aus dem Schlaf aufschreckt. Oft steht sie am Fenster, das vorn, zum Zuschauerraum hin angenommen wird, schaut sehnsüchtig hinaus und horcht auf die Geräusche, die Ulrich Hoppe und Renato Schuch in einer Kammer neben der Bühne erzeugen: Schritte auf dem Kies, Türen, die geöffnet und geschlossen werden, Gesprächsfetzen.

Die Blumen, die das Dienstmädchen in eine Vase auf dem Nachtschränkchen stellt, wirft Ophelia in den Papierkorb. „Blumen sind für die Toten“ hat Ophelias verstorbene Mutter gesagt, die als Stimme, gesprochen von Jule Böwe, präsent ist. Es ist eine liebevolle Stimme, voller Zärtlichkeit für die kleine Tochter, der sie jedoch höchst fragwürdige Verhaltensweisen empfiehlt. Das Mädchen solle sich klein machen, sich im Fußboden oder in der Wand verstecken und sich die Füße einbinden. Offenbar war Ophelias Mutter eine tief verängstigte Frau, die ihre Tochter traditionelle weibliche Unterwürfigkeit gelehrt hat.

Auch Hamlets Stimme ist häufig zu hören. Ophelia lauscht den Kassetten, die er für sie besprochen hat, hört manche Textstellen mehrfach aufmerksam, jedoch mit fast gleichgültigem Gesichtsausdruck, so als beträfen diese Botschaften sie gar nicht.

Bei Shakespeare erklärt Hamlet zunächst poetisch seine Liebe und äußert sich später zunehmend anzüglich und aggressiv Ophelia gegenüber. Alice Birch verdeutlicht, dass Hamlet anfänglich nur über seine eigenen Gefühle spricht. Ophelia ist das Medium, das Verliebtheit in ihm auslöst. Wenn er sie dann direkt anspricht, bezieht er sich lediglich auf ihre Geschlechtsorgane. Als Person existiert Ophelia nicht für ihn.

In „Ophelias Zimmer“ hat Katie Mitchell auf die Verbindung von Theater und Film verzichtet, die für viele ihrer Inszenierungen kennzeichnend ist. Hier bedarf es aber auch keiner Kamera. Die immense Konzentration, mit der Jenny König sich auf der Bühne bewegt und das wundervoll ausgefeilte Lichtdesign von Fabiana Piccioli lassen Ophelia manchmal wie in Großaufnahmen sichtbar werden. Wenn sie, frontal zum Publikum, am Fenster steht, ist fassungsloses Staunen auf Jenny Königs Gesicht zu lesen, das vergebliche Ringen um Worte, mit denen sie ihre Situation beschreiben und die verzweifelte Sehnsucht nach einem Menschen, dem sie sich mitteilen könnte.

Jenny König bewegt sich mit fast schwereloser Leichtigkeit so als wage sie es nicht, Raum einzunehmen. Ganz anders als das Dienstmädchen. Iris Becher repräsentiert die perfekt geschulte Angestellte, die sich ihrer Bedeutung sehr wohl bewusst ist. Bei aller gebotenen Devotion ist ihr die Verachtung des völlig überflüssigen Wesens anzumerken, dem sie in sachlichem Ton Anweisungen übermittelt, Blumen und Briefe und, vor Einladungen des Hofes, auch Kleider und Schuhe überbringt.

Zu Beginn des Stücks trägt Jenny König ein schwarzes Kleid, über das sie dann immer wieder weitere schwarze Kleider vom Kleiderständer überzieht. Einmal ist auch ein rotes dabei, das sie vom Dienstmädchen bekommt anlässlich der Theateraufführung am Hof. Ophelias Körper wird unförmig durch diese Kleiderschichten, dehnt sich aus wie der aufgeschwemmte Leib einer Wasserleiche.

Die Gummistiefel, die Ophelia anzieht, wenn sie Spaziergänge unternimmt, zu denen sie immer mit freudiger Erwartung aufbricht, werden überflüssig, als sie ihr Zimmer nicht mehr verlassen darf. Kurz darauf wird sie dort eingeschlossen. Das Dienstmädchen kommt in Begleitung eines Mannes (Ulrich Hoppe), der Ophelia Medikamente verabreicht und auf ihre Bitte, Hamlet zu sehen erklärt, dass Hamlet sich nicht für sie interessiere.

Am Ende fließt Wasser in Ophelias Zimmer. Ophelia bemerkt es erschrocken und mit ihr auch das Publikum, während das Dienstmädchen und der Mann, ohne es wahrzunehmen, durch das Wasser gehen, das ihnen bis an die Knie reicht.

Ophelia, die niemals gelernt hat sich zu wehren und der alle Möglichkeiten zur Flucht versperrt sind, richtet schließlich ihre ohnmächtige Empörung gegen sich selbst. Sie sticht sich ihre Stickschere in den Hals und fällt blutend ins Wasser.

Nach jedem Akt senkt sich ein schwarzer Kasten herab, unter dem die Bühne verschwindet. Am Schluss umhüllt vorher ein durchsichtiges Gehäuse die Szenerie. Darin eingeschlossen ist Ophelia, im Wasser treibend mit den Blumen aus dem umgestürzten Papierkorb. In einem geisterhaften Licht erscheint sie wie ein Exponat in einem naturkundlichen Museum.

Mit ihrer grandiosen Inszenierung entlarvt Katie Mitchell den Mythos Ophelia als Produkt einer grausamen, armseligen Phantasie.

„Ophelias Zimmer“ mit Texten von Alice Birch, Koproduktion mit dem Royal Court Theatre London, ist seit dem 08. Dezember in der Schaubühne zu erleben.

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