Sankt Margarethen, Wien, Österreich (Kulturexpresso). Jahr für Jahr werden im Römersteinbruch nahe des burgenländischen Weinstädtchens St. Margarethen spektakuläre Freiluft-Opernproduktionen mit erstklassigen Sängern, einem hervorragenden Orchester und aufwendigem, in die schroffe Felslandschaft des Steinbruchs raffiniert integriertem Bühnenbild gezeigt. Zu dieser größten Naturbühne Europas strömen jeden Sommer Tausende von Besuchern, vor allem aus dem knapp eine Autostunde entfernten Wien.
Wie auf der Seebühne Bregenz, am westlichen Ende Österreichs, gibt man den grossen, allseits bekannten Opern mit umfangreichen Chören und berühmten Arien den Vorzug, und dieses Jahr wurde Verdis „Nabucco” (in der Inszenierung von Francisco Negrin), dieses biblische Freiheitsepos der geknechteten Hebräer, zur Aufführung gebracht – mit Sängerinnen und Sängern der Weltklasse. Und obwohl Regisseur Negrin im Programmheft feststellt, dass man mit dieser Oper „vermintes Terrain“ betrete, entging sowohl ihm als auch den übrigen Produktionsmitgliedern dieser Inszenierung das eigentliche Minenfeld, das mit der Aufführung der Hebräer-Oper „Nabucco“ ausgerechnet auf diesem Schauplatz betreten wurde: Tausende von jüdischen Zwangsarbeitern, aus dem nahen Ungarn zum Bau des nie eingesetzten „Südostwalls“ gegen die vorrückende Rote Armee hierher, in die unmittelbare Nähe der ungarisch-österreichische Grenze getrieben, hatten den Römersteinbruch vor der Weiterführung dieses Todesmarschs in westlicher Richtung KZ Mauthausen als „Sammelstelle“ und Nachtquartier zu benutzen. Dabei kam es zu mehreren Massakern an diesen völlig entkräfteten, grossteils todgeweihten ungarischen Juden: sechs von ihnen wurden im Steinbruch am Vormittag des 30. März 1945, 30 bis 40 jüdische Zwangsarbeiter am Nachmittag erschossen, zwei nach einem Fluchtversuch schwer verletzte Juden wurden am folgenden Tag nahe des Steinbruchs erschossen, und am Abend des 30. März 1945 wurden dort weitere 40 ungarische Juden erschossen. Der Bürgermeister und Ortsgruppenleiter des Städtchens, Karl Unger, liess es sich nicht nehmen, mit seiner Pistole höchstpersönlich einen der Unglücklichen zu erschiessen. Ein lokaler Gendarm namens Matthias Kremser wurde Zeuge, wie SA-Männer Dutzende der ungarischen Juden von der Oberkante des Steinbruchs aus 20 bis 30 Metern Höhe in den sicheren Tod hinabstiessen.
Der Schauplatz dieses Massakers ist heute die imposante Kulisse der jährlichen Opernspektakel – und es wundert und schmerzt den informierten Beobachter, dass zweifellos kein einziger der Zuschauer dieses grossartigen Historiendramas über die biblischen Hebräer auch nur eine Ahnung hat, dass sich genau hier und nicht im zeitlich und geografisch fernen Babylon ein viel schlimmeres Drama abgespielt hat, möglicherweise unter Billigung oder gar aktivem Zutun seiner Vorfahren. Gerade bei der Inszenierung einer Oper, die sich so wirkungsvoll mit der Geschichte des jüdischen Volkes befasst, wäre ein bescheidener Hinweis oder vielleicht gar ein aufklärender Artikel im Programmheft durchaus angebracht gewesen. Aber das hätte wohl manchem die Freude an dem schönen Opernabend leicht getrübt.