Frau Nowak aus der 7. Klasse – „Das Lehrerzimmer“ im Panorama der Berlinale

Szene aus dem Film "Das Lehrerzimmer" mit Leonie Benesch als Carla Nowak. © Judith Kaufmann Alamode Film, BU: Stefan Pribnow

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Das Panoramaprogramm der Berlinale bietet mit Das Lehrerzimmer, der den Mikrokosmos Schule aufzeigt, einen der sehenswertesten Filme dieser Sektion.

Die Schule als Filmthema ist nichts Neues. Der bekannteste Vertreter dieser Sparte ist hier sicher Der Club der toten Dichter von Peter Weir mit Robin Williams. So aufklärerisch, moralisch, idealistisch und menschlich wie dort geht es in Ilker Çataks Film Das Lehrerzimmer allerdings nicht zu. Im Gegenteil: hier ist die Schule der Ort, wo alle negativen menschlichen Eigenschaften und Schwächen einen Platz finden; Missgunst, Lügen, Denunziation, Vorurteile, falsche Unterstellung, Machtmissbrauch. Und das alles nicht, weil Lehrer und Schüler grundsätzlich schlechte Menschen sind, sondern weil sie in einen Strudel an Ereignissen geraten und in ihrem Willen den bestmöglichen Weg zu finden und die Sache für sich positiv zu lösen alles nur noch schlimmer machen.

Szene aus dem Film „Das Lehrerzimmer“ von Regisseur Ilker Catak. © Judith Kaufmann, Alamode Film, BU: Stefan Pribnow

Diebstahl!

Der Film beginnt mit einer Befragung von Schülern durch Lehrer hinsichtlich eines Diebstahls. Einer dieser Lehrer ist Carla Nowak (Leonie Benesch), die die 7. Klasse jener Schule in Mathe und Sport unterrichtet. Doch schnell wird klar: die Befragung ist keine Befragung, sondern wird durch die Lehrer zum Verhör. Als Carla schließlich mit Hilfe der Kamera ihres Laptops einem weiteren Diebstahl im Lehrerzimmer auf die Schliche kommt und eine Kollegin verdächtigt, spitzt sich die Angelegenheit für Lehrer, Schüler aber vor allem für Carla zu. Dass der Sohn dieser Kollegin auch noch ihr Schüler ist, macht die Sache nur noch komplizierter. Sie muss sich den Vorwürfen der Lehrerkollegen und Eltern stellen, jene Kollegin zu Unrecht zu beschuldigen sowie unerlaubt Videoaufnahmen im Lehrerzimmer zu machen. Zudem gerät eben jener eine Schüler gleich mit in den Verdacht des Diebstahls und sieht sich den Anfeindungen der Mitschüler ausgesetzt. Dass Carla sich eben für jenen Schüler einsetzt und Partei ergreift, zeigt, dass sie bestrebt ist, ehrlich und anständig zu bleiben, verschlimmert die Verhältnisse aber zunehmend. Jene Diebstahlsgeschichte wird schließlich eine Angelegenheit der gesamten Schülerschaft. Die Situation verselbstständigt sich und sowohl Carla als auch die Lehrer können diese nicht mehr kontrollieren, geschweige denn steuern und werden von dem Strudel der Ereignisse hinein- und schließlich mitgerissen. Und Carla, die eigentlich im besten Sinne gehandelt hat muss nun selbst versuchen über Wasser zu bleiben.

Leonie Benesch als Carla Nowak, die junge idealistische und engagierte Lehrerin

Regisseur Ilker Çatak ist mit Das Lehrerzimmer ein hervorragender Film gelungen, der sich durch eine dichte Handlung sowie eine sichere und handwerklich gekonnte Umsetzung auszeichnet. Herz und Seele des ganzen Films ist Leonie Benesch als Carla Nowak, die den Typus der jungen idealistischen und engagierten Lehrerin verkörpert und hier eine ihrer besten schauspielerischen Leistungen abliefert. Auch deshalb, weil ihre Carla Nowak keine ausgefallener Figur ist, sondern eben eine normale junge Frau, die sich den außerordentlichen Umständen stellen muss und dabei engagiert und idealistisch rangeht aber eben auch nicht fehlerfrei und ohne eigene Schwächen, kurz empathisch. Billy Wilder meinte einmal im Hinblick auf Jack Lemmons Darstellung des C.C. Baxter in Das Apartment, dass es sehr schwierig sei, den normalen, einfachen, unkomplizierten, nicht von seinen komplexen beladenen Menschen darzustellen. Das ist Leonie Benesch hier außer Frage gelungen, fast so gut, dass man meint, sie stelle den Typus der jungen, idealistischen, engagierten Lehrerin dar.

Szene aus dem Film „Das Lehrerzimmer“ mit Leonie Benesch als Carla Nowak. © Judith Kaufmann, Alamode Film, BU: Stefan Pribnow

Ilker Çatak fängt die Schule ein – und das Lehrerzimmer

Ebenfalls sind hier Ilker Çataks Fähigkeiten als Regisseur hervorzuheben, der die Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft darstellt, ohne dabei moralisch erhöhend zu wirken, was bei einem Thema wie diesem und gerade in deutschen Filmen schnell passieren kann. Ganz im Gegenteil; Das Lehrerzimmer ist spannend wie ein Thriller inszeniert, ohne reißerisch zu wirken. Er fängt den Kosmos Schule exzellent ein und schafft es, uns dramaturgisch an der Hand zu halten. Man fühlt sich sogar bei einigen Szenen wieder unangenehm an die eigene Schulzeit erinnert. Çatak geht es um den Umgang und die Beziehung von Lehrern untereinander, von Lehrer zu Schüler und den Schülern zueinander. Wie schnell ihre guten Vorsätze in der jeweiligen Situation abhandenkommen und der Raum für Vorurteile, Falschaussagen und Denunziation geöffnet wird. Die Frage nach der Identität des Diebes tritt mit zunehmendem Verlauf der Handlung in den Hintergrund – ja wird sogar belanglos. Er ist nur Anlass, um aufzuzeigen, wie schnell Unwahrheiten und falsche Behauptungen ihre Kreise ziehen und Schüler als auch Lehrer diesem anheimfallen.

Szene aus dem Film „Das Lehrerzimmer“ mit Leonie Benesch als Carla Nowak und anderen Darstellern. © Judith Kaufmann, Alamode Film, BU: Stefan Pribnow

Carla Nowak gibt der Schülerzeitung ein Interview

Besonders schön anzusehen in der Szene, in der Carla Nowak der Schülerzeitung ein Interview gibt und die Schüler sie mit falschen Aussagen konfrontieren und von ihr schließlich erfahren wollen, wer hinter den Diebstählen steckt und als Carla fragt, von wem sie die Falschinformationen haben, nur zu hören bekommt, dass die Quellen geschützt werden müssen. Die Halbwahrheiten der stillen Post haben ihre denunziatorischen Kreise gezogen und drohen nun Carla zu verschlingen, weshalb die dann trotzig antwortet: „Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer“.

Beim Schauen von Das Lehrerzimmer fühlt man sich unweigerlich an eine lakonische Bemerkung des Kabarettisten Dieter Nuhr erinnert, als er die Schule als Ort beschrieb, wo gelogen, geschlagen, gekifft und gesoffen wird, nur um dann anzumerken, dass die Schüler nicht besser sind. In Çataks Film wird jetzt zwar nichts dergleichen getan, trifft aber den gleichen Kern, Lehrer sind in ihren moralischen und ethischen Ansprüchen nicht unbedingt besser als die Schüler.

In der Kurzbeschreibung des Films im Berlinaleprogramm kommt die Handlung von Das Lehrerzimmer sehr unscheinbar, ja fast schon langweilig daher. Was definitiv täuscht. Im Gegenteil, hier läuft einer der sehenswertesten Filme im Panoramaprogramm.

Premiere am 18. Februar 2023. Bundesdeutscher Filmstart Anfang Mai.

Das Plakat zum Film „Das Lehrerzimmer“ von Ilker Catak. © Judith Kaufmann, Alamode Film, BU: Stefan Pribnow

Filmographische Angaben

  • Originaltitel: Das Lehrerzimmer
  • Staat: Deutschland
  • Jahr: 2023
  • Regie: İlker Çatak
  • Drehbuch: Johannes Duncker, İlker Çatak
  • Kamera: Judith Kaufmann
  • Schnitt: Gesa Jäger
  • Musik: Marvin Miller
  • Darsteller: Leonie Benesch (Carla Nowak), Leonard Stettnisch (Oskar), Eva Löbau (Friederike Kuhn), Michael Klammer (Thomas Liebenwerda), Anne-Kathrin Gummich (Dr. Bettina Böhm), Kathrin Wehlisch (Lore Semnik), Sarah Bauerett (Vanessa König), Rafael Stachowiak (Milosz Dudek), Uygar Tamer (Frau Yilmaz), Özgür Karadeniz (Herr Yilmaz) u.a.
  • Produktion: Ingo Fliess
  • Spieldauer: 94 Minuten
  • Altersfreigabe: FSK 12

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