London, VK (Kulturexpresso). „Iolanthe“ ist noch vor allen anderen brillanten Werken des Librettisten/Komponisten-Duos Gilbert & Sullivan deren englischste aller Operetten: Eine beißende Satire auf das englische Klassensystem und das bis heute heftig umstrittene Oberhaus, das House of Lords in einer atemberaubend aufwendig-phantasievollen Inszenierung. Da schweben Feen – für das viktorianische England durchaus real existent – durch einen üppig-bunten Dschungel überdimensionierter Blumen (die englische Vorstellung vom legendären Arkadien), da stößt eine Dampflokomotive mit angehängtem Waggon in Originalgröße ritschratsch durch den gemalten Prospekt im Bühnenhintergrund, da verwandelt sich die üppige Feenwelt im Handumdrehen in das prunkvolle House of Lords, wo sich Feen und Lords fröhlich paaren und damit die (dann doch nicht zur Anwendung gelangte) Todesstrafe heraufbeschwören, da wandern Schafe und andere Tiere in realistischen Figuren über die Bühne: Spektakulär von Arkadien bis Westminster (Bühne: Paul Brown)! Kein Wunder, daß dies die beliebteste aller Operetten im Repertoire der English National Opera ist!
Englischer Humor in der hierzulande so beliebten Form gnadenlos bissiger Satire und parodistisch gemeinten Riesenkitsch ziehen sich durch diese vielleicht berühmteste englische Operette – neben dem unsterblichen, urkomischen „Mikado“ und den ebenso surrealen „Pirates of Penzance“. Clive Mantle gab mit umwerfender Komik und perfekter Kostümierung den viktorianischen Feuerwehroffizier als würdiger und doch stets augenzwinkernder Zeremonienmeister, der gelegentlich auf der Bühne einzugreifen hatten, wenn die Feen von ihrem Feuerzauber allzu waghalsig Gebrauch machten. Selbstverständlich war das Publikum im prachtvoll-überladenen „London Coliseum“ – mit 2359 Sitzplätzen das größte Theater Londons – hingerissen und kapierte natürlich sofort die Anspielungen auf die vom Arts Council lancierte Schnapsidee, die ENO von ihrem Heim im Coliseum in die entfernte nördliche Industriestadt Manchester zu transferieren: Der Feuerwehrhäuptling sprach für alle verständlich von der „geplanten Verlegung des House of Lords nach Manchester“…
Die Regiearbeit von Cal McCrystal schliff die Pointen messerscharf und sekundengenau – der Humor wirkte stets treffsicher und niemals überdreht und dümmlich wie in so manchen Produktionen, wie ich sie beispielsweise auf Wiener Bühnen (der neue „Orpheus in der Unterwelt“ an der Volksoper fällt mit da als erstes ein) zu sehen bekam. Und England wäre nicht England, wenn da nicht täuschend realistische Kopien englischer Politiker aufgetreten wären – allen voran natürlich Ex-Premier Boris Johnson mit seinem unverkennbaren wirren, blonden Wuschelkopf und der notorisch snobistische Tory-Unterhausabgeordnete England, der hemmungslos auf den Bänken des ehrwürdigen Parlaments herumlümmelte.
Der Chor hatte eine doppelte Aufgabe – nämlich gesanglich sowohl als auch tänzerisch – virtuos zu bewältigen (Choreographie: Lizzi Gee) und die Mezzosopranistinnen Samantha Price als Iolanthe sowie Catherine Wyn-Rogers als Feenkönigin glänzten sängerisch mit starken, strahlenden Stimmen. Der Bass-Bariton John Savournin verkörperte den Lord Chancellor mit sonorer Tiefe und pointiertem Humor. Das Hausorchester der ENO unter der Stabführung von Chris Hopkins intonierte Sullivans süffig-eingängige Tonfolgen mit viel Temperament und sinnlicher Tiefe.
- Titel: Iolanthe
- Musik: W.S.Gilbert, Sir Arthur Sullivan
- English National Opera (ENO)
- London Coliseum
- Dauer: 2 Stunden, 50 Minuten
- Sprache: Englisch
- Dirigent: Chris Hopkins
- Regie: Cal McCrystal
- Choreographie: Lizzi Gee
- Bühne: Paul Brown
- Iolanthe: Samantha Price
- Der Lord Chancellor: John Savournin
- Die Feenkönigin: Catherine Wyn-Rogers
- Phyllis: Ellie Laugharne
- Strephon: Marcus Farnsworth
- Captain Shaw: Clive Mantle
Anmerkung:
Der Beitrag von Dr. Charles E. Ritterband wurde in „Klassik Begeistert“ erstveröffentlicht.
Dr. Ritterband schrieb am 13.10.23 über die israelische Oper: https://kulturexpresso.de/oper-im-krieg-israel-opera-tel-aviv-spielt-weiter-und-hofft-auf-ruhigere-zeiten/ .
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