Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Die Frage bleibt offen: Wie kam das rosarote Ei in das Rabennest? Das ist einfach nicht wichtig. Geschlüpft ist jedenfalls gesunder Nachwuchs – den vier Vogelkindern nicht sehr ähnlich, aber genau so munter, laut und hungrig wie sie. Gemeinsam kuscheln alle unter den Flügeln der Rabeneltern, die auch das rosige Wesen akzeptieren, wie es ist. Und als der Lütten kein Federkleid wächst, beschafft ihr der besorgte Papa ein modisch pinkfarbenes Kleidchen und eine passende Kappe. Mamas Kommentar: »Unsere kleine Rosa«. Die lässt sich wie die Geschwister mit Fliegen, Würmern und Schnecken füttern, krächzt mit ihnen um die Wette, schlägt mit den Ärmchen und versucht zu flattern. Alle finden das prima und fühlen sich miteinander wohl.
Sorgen machen sich andere. Die Nachbarn haben allerhand gute Tipps für das arme Ding, damit es schnell genau so wird wie alle Rabenjungen.
Es dauerte ein Weilchen, bis Rosa begriffen hatte, dass sie anders und quasi ein Außenseiter ist in ihrer Familie. Brav übt und übt sie ein Rah-Rah-Rah, trainiert das Flattern, reibt sich mit Birkenblättern ein, bis sie grasgrün ist, und versucht sich anzupassen. Erfolglos. Doch eines Tages ist ihr alles zu dumm. »Na und?« sagt sie, »dann bin ich eben anders!«
Und als sie auch noch herausgefunden hatte, dass sie zwar nicht fliegen, sich mit ihren Händen jedoch den Kopf kratzen, die Ohren zuhalten und sogar in der Nase bohren kann, ist sie´s höchst zufrieden. Und die Rabeneltern sind es auch. So kann sich Rosa auf ihren Rücken festhalten, wenn alle Vögel auf dem Weg nach Süden sind. Denn dass man zusammenbleibt, daran besteht kein Zweifel.
Die neue Bleibe ist ein toller Kletterbaum. Rosa erreicht das Rabennest fast so schnell wie der Vogeleltern, denen sie bei der Aufzucht der nächsten Generation hilft. Dort fühlt sie sich zuhause und geborgen. Alle wissen, dass sie etwas anders ist, aber sie gehört dazu. Als Rudi, der Frosch fragt: »Was bist Du denn für eine?«, antwortet sie selbstbewusst: »Ich bin die Rabenrosa.« Und bald wird sie etwas können, was ihr nicht jeder nachmacht: der neue Freund wird ihr das Schwimmen beibringen.
Diese poetische Geschichte hat Helga Bansch geschrieben, die 1957 in der Steiermark geboren wurde und heute in Wien lebt. Geschöpft hat sie sicherlich aus ihren langjährigen Erfahrungen als Volksschullehrerin beziehungsweise als Sozialarbeiterin im Umgang vor allem mit Kindern, die als verhaltensgestört gelten und deshalb ausgegrenzt werden oder sich so fühlen. Dabei entdeckte Helga Bansch das Zeichnen und Malen als Ausdrucksmittel und wichtige Kommunikationshilfe für alle, die nicht den allgemeinen gesellschaftlichen Normen entsprechen, die »anders« sind. Seither malt sie Bilder mit Acryl auf Karton oder Leinwand, macht Puppen, Marionetten und Objekte aus Sandstein, Ton und Pappmaché. Überzeugend lang ist die Reihe der von ihr illustrierten Kinderbücher – jede Menge vom Autor Heinz Janisch. Aber fast eben so viele der Geschichten hat sie sich selber ausgedacht und mit einfühlsamen Zeichnungen ergänzt. Anerkannt wurden ihre Leistungen mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen. Der vorerst letzte war der »lllustrationspreis der Stadt Wien 2015« für die herzerwärmende und mutmachende »Rabenrosa«.
Das Lob gilt nicht nur der Moral der Geschichte, die in den »Wertediskussionen« der heutigen Tage dringlicher ist als je, sondern dem Gesamtkunstwerk, einer witzigen Komposition aus ganzseitigen und kleinen mehrteiligen Buntstift- und Aquarellzeichnungen auf strukturierten und teilweise bedruckten Papieren. Alles ist gehalten in sanften beige bis braunen Tönen, die wunderbar mit Rabenrosas Kleidchen und Kappe und dem schwarzen Rabengefieder harmonieren. Helga Bansch führt exakt Mimik und Körpersprache der handelnden Figuren vor: die stolzen Vogeleltern, den schnabelaufreißenden oder fröhlich tobenden Nachwuchs, die besorgten Waldbewohner oder die staunenden Kühe unterm Nistplatz – das muss ihr erst mal einer nachmachen!
Erschienen ist das Buch bei Jungbrunnen Wien. Eigentümer des Verlages sind seit seiner Gründung (1923) die Österreichischen Kinderfreunde. Erklärtes Ziel: Gute Bücher für alle Kinder. 75 Prozent der Titel wurden in 30 Sprachen übersetzt. Überall in der Welt werden Jungbrunnen-Bücher gelesen. Sie sind spannend und brisante Themen werden nicht ausgelassen. Die jungen Leser werden unterhalten, ohne dass ihnen triviale Ideal- und Scheinwelten vorgegaukelt werden. Sie sollen sich in den Büchern zu Hause fühlen und sich mit existenziellen Fragen beschäftigen können. Besonderen Wert legt Jungbrunnen auf Qualität bei Inhalt, Sprache und Illustrationen.
Bibliographische Angaben
Helga Bansch: Die Rabenrosa. Verlag Jungbrunnen, Wien, ISBN 978-3-7026-5874-8, 14,95 €. Empfohlen für Kinder ab 4 Jahren
Anmerkung:
Die Artikel von Katharina Schulze wurde in Ossietzky, 24/2015 erstveröffentlicht.