Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Der Film „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef fängt die Atmosphäre der Wendezeit wunderbar ein, kann aber als Liebesgeschichte überhaupt nicht bereichern.
Mit Emily Atefs neustem Film „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ läuft auf der diesjährigen Berlinale der erste als deutsch geltende Film im Wettbewerb. Emily Atef konnte auf der Berlinale vor fünf Jahren mit ihrem Film über Romy Schneider „Drei Tage in Quiberon“ überzeugen. Ob das ihrem neuen Film „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ vergönnt sein wird, bleibt fragwürdig. Sie bleibt offenbar ihrem Leitthema treu: Frauen unterschiedlichen Alters in einer existentiellen Krise. Die Thematik ihres aktuellen Films hat auf den ersten Blick nichts Neues, aber eben doch einen anderer Blickwinkel.
Der Film ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Daniela Krien, die mit Emily Atef auch gemeinsam das Drehbuch geschrieben hat. Die Geschichte dreht sich um die 19-jährige Marie, die im Sommer 1990 – eben zur Wendezeit – auf dem elterlichen Hof ihres Freundes Johannes lebt, der an der deutsch-deutschen Grenze liegt. Marie liest gern und hat auf dem Hof von Johannes Eltern ein kleines Idyll gewonnen. Sie wird wie ein gleichwertiges Familienmitglied behandelt. Das scheint gut so und auch sonst zeigt die Handlung zu Beginn die typischen Merkmale eines Wendefilms. Der im Westen lebende Onkel von Johannes kommt zu Besuch. Endlich hat er den Mut gefasst, da die Mauer nicht mehr steht, Kontakt zur Familie aufzunehmen. Die erste Begegnung ist dann auch herzlich und der Westverwandte will der Familie bei der finanziellen und administrativen Bewältigung des Bauernhofes unter die Arme greifen. Johannes selbst hat Bestrebungen Fotograf zu werden. Er will sich an der Kunsthochschule in Leipzig bewerben. Der Aufbruch ins Neue bahnt sich an. Wäre da nicht der Hofnachbar Henner. Jener ist gut 20 Jahre älter als Maria und hat mir ihr doch mehr gemeinsam als mit Johannes oder den anderen Familienmitgliedern. Auch er liest gern und hat wie Marie ein introvertiertes Wesen. So unterschiedlich beide aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunft auch scheinen mögen, sie sind doch in ihrem Individualismus und ihrer literarischen Neigung viel verbundener als mancher denkt. Mit seiner rauen und direkten Art, die aber eben auch zum Musischen hingewandt ist, fühlt sich Maria zu Henner hingezogen. Beide kommen sich näher und beginnen eine Liebesaffäre. Zuerst sieht es noch nach einer reinen sexuellen Beziehung aus, die mit zunehmender Zeit tiefer und ernster wird. Folglich muss Maria einen Balanceakt vollführen. Einerseits muss sie die Beziehung gegenüber Johannes und deren Familie geheimhalten, andererseits will sie zugleich unentwegt mit Henner zusammensein.
Emily Atef hat ihren Film mit sicherer Hand inszeniert. Ihr gelingt es, die ehemalige DDR mal nicht düster, sondern kameratechnisch lebendig und schön einzufangen. Auch was das Leben jener Familie der Wendezeit angeht, bringt sie das auf erfrischende Weise auf die Leinwand – sei es beim Essen, beim Streiten, beim Singen und so weiter. Gerade das erste Treffen mit der aus dem Westen kommenden Familie besticht durch Herzlichkeit und zugleich Einfachheit.
Anders sieht es bei der Liebesgeschichte vom Marie und Henner aus. So konzentriert sie sich zu Beginn auf das rein sexuelle Verlangen der beiden. Minutenlang schwelgt sie in Nacktaufnahmen beim sexuellen Vorspiel der beiden. Sie stellt das hier Gott sei Dank natürlich dar und gibt sich nicht dem Voyeurismus Ader hin. Doch so gut Emily Atef ihren Film auf Darsteller, Ausstattung, Atmosphäre und Bilder auch zu inszenieren weiß, doch das, was die Liebesbeziehung von Marie und Henner betrifft, gelingt ihr das überhaupt nicht einzufangen und festzuhalten.
Im Film wird die Liebe der beiden im Fortschreitenliche, in Entwicklungen vom Eros, von der ersten reinen sexuellen Beziehung über den ersten Streit und die erste Ablehnung über wirkliche verlangende Liebe bis hin zum Tragischen – nicht zum Tod – gezeigt. Doch gerade in diesem Kernstück des Films will der Funke nicht überspringen, jedenfalls nicht auf mich. Dafür ist die Liebesgeschichte zu verkrampft und zu langatmig. Maria und Henner bleiben als Charaktere zu monoton und und mir zu fremd. Anderen dürfte das ähnlich gehen.
In Jean-Luc Godards Film „Pierrot le fou“ (deutsch „Elf Uhr nachts“) fragt Jean-Paul Belmondo auf einer Party den Regisseur Samuel Fuller, was das ist, Film, worauf dieser nickend antwortet: „Film is like a battleground, Love, Hate, Action, Violence, Death, in one word emotions.“
Emily Atefs Liebesgeschichte von Maria und Henner hat einiges davon, nur das Letztgenannte eben nicht: Emotionen. Atif ist klug genug, keine pathetische Schnulze zu inszenieren, wohl wahr, aber mehr auch nicht. Ihr scheint es um das Leben auf dem Land zur Wendezeit und um Maria, ihre Hauptfigur, zu gehen. Wenn das keine feministische Sicht ist, was dann?
Weil die Liebesbeziehung von Henner und Maria einen wichtigen Teil einnimmt und sich alles am Ende darauf konzentriert, vergibt Atif jedoch die Möglichkeit, einen wirklich guten Film zu machen (für Frauen und Männer). In dieser, ihrer Darstellung der Liebe ist sie schwerfällig, unnahbar und vielleicht auch ein wenig zu intellektuell. Ihr Film, so gut er in den anderen Bereichen auch sein mag, ist gerade hier echt enttäuschend. Enttäuschung bei der Erwartung. Wenn das keine Emotion ist, was dann?
Filmographische Angaben
- Originaltitel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
- Englischer Titel: Someday We’ll Tell Each Other Everything
- Staat: Deutschland
- Jahr: 2023
- Regie: Emily Atef
- Buch: Emily Atef, Daniela Krien
- Kamera: Armin Dierolf
- Montage: Anne Fabini
- Musik Christoph M. Kaiser, Julian Maas
- Szenenbild: Beatrice Schultz
- Darsteller: Marlene Burow (Maria), Felix Kramer (Henner), Cedric Eich (Johannes), Silke Bodenbender (Marianne), Florian Panzner (Siegfried), Jördis Triebel (Hannah), Christian Erdmann (Hartmut), Christine Schorn (Frieda), Axel Werner (Alfred), Victoria Mayer (Gisela)
- Produzent: Karsten Stöter
- Spieldauer: 129 Minuten