Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich kann die Plastikrentiere aus Taiwan – nichts gegen die Republik China – nicht mehr sehen. Obwohl die vielen Lichter, die dank LEDs auch nicht mehr von Atomkraftwerken betrieben werden müssen, eine Winterdepression verhindern könnten.
Fliegende Schlitten, die von fliegenden Zugtieren angetrieben werden – ohne Bodenwiderstand. Wovon sollen sich die Vierbeiner denn abstoßen?
Kaum ist Weihnachten vorbei, knallt einem der China- oder Polenböller um die Ohren und reißt einen aus der gerade einsetzenden Besinnung, da die Geschäfte endlich mal geschlossen hatten. Der nächste Einkaufsgrund. Krapfen, Knallbonbons, Luftschlangen – wenn das vorbei ist, gehen Schule und Uni wieder los.
Mint ist keine Minze
Dann wird sich wieder beklagt über das mangelnde Interesse an den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften) und zu wenig Nachwuchs, ganz besonders unter den Frauen.
Kindern das Märchen vom Weihnachtsmann als Bären aufzubinden, ist eine Sache. Ein fliegendes Ren, das weder aus dem Flugzeug gefallen, noch am Fallschirm oder einem Hubschrauber hängt, eine andere.
Da darf man sich nicht wundern.
Sternenkunde
Mit der Astronomie geht es weiter. Vom Polarstern kommt er her, der fliegende Mann.
Aha. Den Stern im Norden, ganz hell und unbeweglich, kennen sogar Matrosen. Nächtliche Navigation? Nur nicht ohne Nordstern.
Doch nicht nur mit dem Stern wird Schindluder getrieben, sondern auch noch mit der Sprache.
Nachplappern ist einfacher als denken.
Übersetzungsfehler mögen manchmal lustig sein – wenn sie derart Sprachen zerstören und das Verständnis erschweren, reicht es. Guter Vorsatz für das neue Jahr: Kein „Polarstern“ mehr.
Eisbär am Pol!
Wie durch ein Wunder gibt es im Deutschen noch keine „Polarbären“, sondern nur Eisbären. Im Englischen gibt es „polar bears“. Niemand würde verstehen, wenn man von „ice bear“ spricht. Ein „Ice Bear“ könnte eine Art Schneemann in Bärenform sein oder ein mit der Kettensäge aus einem Eisblock herausmodelliertes Kunstwerk. Würde das Wort „polar bear“ obsolet und durch die wörtliche Übersetzung von „Eis-bär“ ersetzt, wären die Angelsachsen wohl „not amused“.
Bärenstark
Zwei andere Bären, ein großer und ein kleiner, heißen auf englisch „Ursa Major“, der „great bear“, als Sternbild “big dipper“, und „Ursa Minor“, „Lesser Bear“ oder „little bear“.
Der „Polar star“ befindet sich an der Spitze von „Ursa minor“.
Auf deutsch: Der Nordstern ist an der Spitze (der Deichsel) des „Kleinen Wagens“.
Nordsternstraße = 1a
In Berlin gibt es ein Nordsternhaus und eine Nordsternstraße. Unweit des Schöneberger Rathauses, dass zu West-Berliner Zeiten auch das Rathaus des Bundeslandes Berlin war. Ein Rathaus, in dem die Freiheitsglocke hängt, Willy Brandt und John F. Kennedy große Reden hielten.
Was ist mit der Freiheit, die eigene Sprache sprechen zu dürfen?
In Fulda dagegen wird der unbekannteren Variante des Namens des Sterns gehuldigt. Die Polarsternstraße verbindet Sonnenstraße und Neptunstraße im Stadtteil Haimbach.
Polarstern ist auch deshalb ein schlechter Name, da er ungenau und vieldeutig ist. Da es einen Südpol und Nordpol gibt, ist der Bezug unklar. Polar, nun gut, aber an welchem Pol? Beschreibend gibt es im Englischen den Begriff ’northern pole star‘, der ist allerdings länger, auch als der deutsche, und nicht als Name gebräuchlich.
Im Kino: „BO UND DER WEIHNACHTSSTERN“
Und dann wäre da auch noch der Stern von Bethlehem. In dem köstlich-erfrischenden Weihnachtsfilm „BO UND DER WEIHNACHTSSTERN“ – er heißt auf englisch „The Star“ – spielt er neben dem Esel die Hauptrolle. Die Geschichte ist bekannt: Ein Zimmermann aus Nazareth zieht mit der schwangeren, unverheirateten Maria nach Bethlehem.
Immerhin ist der Esel im Film klug. Er kann sprechen und sich befreien. Die (dummen?) Menschen hören nur „I-ahh“. Maria versteht Bo aber ziemlich gut.
Die Suche nach der Wahrheit
Das entspricht der Wahrheit: Esel sind intelligent, wie Biologen bestätigen können.
Gott sei Dank, wenigstens einer Naturwissenschaft kommt man mal nicht in die Quere.
Um erschöpfend herauszuarbeiten, welcher Stern der von Bethlehem war, fehlt hier der Platz. (Einen Hinweis gibt Matthäus 2, 1-12: „Da sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut …“. Auch Sekundärliteratur zum Thema gibt es ausreichend. Aktuell zum Beispiel die Titelgeschichte der Ausgabe Nr. 10 Dezember 2017/ Januar 2018 von „Himmel & Erde – Gemeindezeitung für den Wilmersdorfer Süden“, genau jenes Bibelzitat ist die Überschrift der Titelstory mit farbigem Cover und fünfzackigem Stern, der scheinwerferartig eine Geburt beleuchtet. Bettina Schwietering-Evers und Monika Linnekugel – „Der Stern im Advent und zu Weihnachten“ – verfassten die Sternenbeiträge der „Cover-Story“.)
Ist die Suche nach der Wahrheit nicht schon spannend genug?
Der Gelbe Riese ist nicht allein
Friedrich Wilhelm Herschel aus Hannover entdeckte im August 1779 Polaris B. Der Nordstern ist so hell, da er das Licht dreier Sterne sammelt: Polaris Aa (ein gelber Riese), Polaris Ab und Polaris B. Aa und der Zwerg Ab sind einander „sehr nah“ (nur so weit wie von der Sonne bis zum Uranus), Polaris B „etwas weiter entfernt“. Alles ist relativ. Deswegen die Anführungsstriche.
Herschel: Musiker, Astronom, Vater
Herschel war Forscher, aber auch Mensch. Er war Sohn eines Militärmusikers, diente als Oboist und Geiger in einem kur-braunschweig-lüneburgischen Regiment, genauer: der Fußgarde in Hannover. Die kur-braunschweig-lüneburgischen Regimenter bildeten eine Armee, die erst 1803 nach der Niederlage gegen Napoleon aufgelöst wurde. Lüneburg-Braunschweig, manchmal verkürzt-verfälschend Kurhannover genannt – wohl im 18. Jahrhundert schon unter dem Einfluss der englischen Sprache – wurde seit 1714 bis zum Amtsantritt der Königin Viktoria (Queen Victoria) im 19. Jahrhundert in Personalunion regiert.
Der Kurfürst von Lüneburg-Braunschweig war gleichzeitig König von England und Schottland, also König von Großbritannien, seit 1801 sogar König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland.
Kein Wunder also, dass 1803, nach Auflösung des Heeres, ein Großteil der Offiziere und Soldaten nach England ging, korrekt: nach Großbritannien, um in der King‘s German Legion den Kampf gegen Napoleon fortzusetzen.
Späte Heirat?
Herschel heiratete erst mit 50, im 18. Jahrhundert hätte man das wohl spät genannt, aber andererseits wegen der mächtigeren Stellung des Mannes wohl geschwiegen, statt den Zeitpunkt zu beurteilen. Er hatte ein Kind. Es wurde geboren, als er 54 Jahre alt war (1792).
Nur ein Sohn
Zu diesem Zeitpunkt war Herschel bereits ein bedeutender Astronom, der 1781 bekannt wurde, als er Uranus entdeckte, einen Planeten, der nicht das Schicksal Plutos erlitt: vom Planeten wieder zum Nichtplaneten degradiert zu werden. Sohn John Frederick William trat in Vaters Fußtapfen und wurde ebenfalls ein großer Astronom.
Herschel schrieb übrigens auch Kammermusik, Konzerte und Symphonien. Joachim-Ernst Berendt (1922-2000; „Das Leben, ein Klang“, „Ich höre, also bin ich“, „Nada Brahma – die Welt ist Klang“) hätte seine helle Freude daran gehabt, oder er hatte sie, falls er ihn kannte.
Märchen erzählt?
Wir wissen nicht, ob Friedrich Wilhelm Herschel seinem Sohn Märchen erzählte und wenn ja welche. Oder ob er das seiner Nachbarin überließ, die er heiratete, als sein Leben schon mehr als halb vorbei war und das halbe hundert Jahre erreicht.
Caroline
Vielleicht hat er, statt seinem Sohn überflüssige Lügen und Märchen zu erzählen, die sich andere ausgedacht hatten, seine Zeit lieber genutzt, um mit seinen Geschwistern Alexander und Caroline weiter immer größere Teleskope zu basteln und Sterne zu gucken. Das war so mitreißend, dass seine 12 Jahre jüngere Schwester eine anerkannte Astronomin wurde.
Die Hannoveranerin kehrte nach dem Tod ihres Bruders 1822 in ihre Heimat zurück, wo sie 26 Jahre später auch starb. Es hielt sie nichts mehr in England. 1838 wurde sie in die Königlich Irische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, da war sie 88. Mit 96 erhielt sie die Goldmedaille der preußischen Akademie der Wissenschaften.
Auch Caroline, die Sternenforscherin, blieb der Musik verbunden. Mit 97 sang sie nach einem mehrstündigen Gespräch dem Kronprinzenpaar ein Lied vor. Es war übrigens eines, das Friedrich Wilhelm komponiert hatte, 7 Jahrzehnte zuvor.
Brauchen wir die Lügen?
Brauchen wir also die Lügen von fliegenden Rentieren? Brauchen wir einen „Polarstern“, obwohl wir doch schon einen Nordstern haben? Der mit zwei Silben auskommt und einen Buchstaben weniger aufweist? Brauchen wir die Falschübersetzungen oder ist das alles „horse radish“?
Plädoyer für die Erforschung der Wahrheit
Nicht nur Goethe, viele Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts und Unternehmer des 19. (Bosch, Siemens & Co.) waren viel ganzheitlicher orientiert, als mancher heutige Fachidiot und Spartenwissenschaftler.
Es sieht ganz so aus, als hätte sich John Frederick William von seinem Vater für das Rätsellösen am Himmel begeistern lassen, das handwerkliche Fähigkeiten erforderte. Nach anfänglicher Emanzipation als Jurist wandte er sich später der Astronomie zu und übernahm sogar die Sternwarte seines Vaters.
Er hätte spätestens nach dem Tod Friedrich Wilhelm Herschels 1822 sich vom Thema abwenden können. Stattdessen wurde er ein anerkannter Astronom. Er führte das Julianische Datum in die Astronomie ein, wurde ob seiner Leistungen geadelt und 1848 Präsident der Royal Astronomical Society.
Er lebte bis in das Jahr der 2. deutschen Reichsgründung hinein, er starb am 11. Mai 1871 in Hawkhurst, Kent.
Er blieb im Lande und folgte seiner Tante nicht in ihre Heimat und die seines Vaters nach Hannover.
Eine Marginalie nebenbei: John Herschel wurde 1850 königlicher Münzmeister der Royal Mint. „Mint“ ist ist hier weder Abkürzung noch Minze noch Pfefferminze. Mint ist hier die „Münze“.
Mit guter Münze
Die Münze, die man nicht in der Hosentasche tragen kann. Jene, nach der in Groß Grönau die Straße „An der Münze“ benannt wurde, in Köln, Lüneburg und Neuss. Im Mittelalter wurden Steuern ganz einfach beim Ummünzen eingezogen. Dieser Ort hieß Münze, da dort gemünzt wurde. In manchen Städten gibt es die „Münzstraße“.
Eine Eselsbrücke
Der englische Begriff „mint“, der einen perfekten Zustand meint, einer Münze, aber auch anderer Gegenstände, Bücher und Antiquitäten, ist davon abgeleitet. Er hat mit der Frische der Minze nichts zu tun, sie kann aber als Eselsbrücke dienen; auch wenn wir jetzt wissen, dass Bo und andere Esel so dumm gar nicht sind. Menschen bedürfen der Eselsbrücken.
Das Märchen vom Weihnachtsmann zu erzählen, mag noch in Ordnung sein, doch enthalten das Leben und das Universum so viele Rätsel, dass die Wahrheitssuche nicht noch künstlich erschwert werden sollte.
Dann kann einem starken Vater ein starker Sohn folgen. Wie im Jahre 1, wenn das kein Märchen ist.
Anmerkung:
Siehe auch den Beitrag Was soll ich dieses Jahr feiern? Den vierten Advent? Da war doch noch ein anderer Festtag am Sonntag, den 24. – Moment, gleich fällt es mir ein … von Dirk Fithalm.