Die Leiden der Eis-Rebellin – White Trash auf Kufen: „I, Tonya“, eine gelungene Tragikomödie über Tonya Harding

I, Tonya
Szene aus dem Film "I, Tonya" von Craig Gillespie. © DCM Film

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Sie wirbelt um die eigene Achse, schwindelerregend, die Kufen der Schlittschuhe knirschen auf dem Eis. Dann der dreifache Axel, der schwierigste Sprung. Geschafft. Tonya Harding (Margot Robbie) strahlt. Doch die Freude über die gelungene Kür hält nicht lange vor, die Jury stört sich an der Musik. Rock, das passt nicht in die heile US-amerikanische Eiskunstwelt. Und Tonya Harding eigentlich auch nicht. „Leckt mich“, faucht sie die Kampfrichter an. In dem zierlichen Körper steckt eben ein ganzer Kerl, trotz Kleidchen und Make-up, das wird in dem Film „I, Tonya“ schnell deutlich.

I, Tonya
Szene aus dem Film „I, Tonya“ von Craig Gillespie. © DCM Film

1994 wurde die Spitzen-Athletin auf fragwürdige Weise weltbekannt, weil ihre Rivalin Nancy Kerrigan durch ein Attentat verletzt wurde. Drahtzieher war Tonyas Verlobter Jeff Gillooly (Sebastian Stan). Was sie selber wusste, konnte bis heute nie ganz geklärt werden. Für die Massenmedien war das jedenfalls ein gefundenes Fressen, sie machten daraus eine Walt-Disney-Story. Gut gegen Böse, die fiese Eishexe gegen das unschuldige Kufen-Schneewittchen. Wird man Tonya Harding so gerecht? Regisseur Craig Gillespie gelang mit seinem unkonventionellen Biopic ein komplexeres Bild über die gefallene Olympiateilnehmerin, über einen Menschen aus prekären Verhältnissen mit der obligatorischen schweren Kindheit und Jugend, ein Mensch, dem, so scheint es, wenig Gutes wiederfuhr, dem jeglicher Halt zu fehlen schien. Dabei gleitet der Film, dem zum Teil die sehr widersprüchlichen Interviewsequenzen zugrunde liegen, jedoch nie ins Mitleidige-Weinerliche ab, dazu ist er zu komisch, zu sarkastisch, zu rasant geraten. Es ist neben den durchweg hervorragenden Darstellern gerade die unkonventionelle Machart, die ihn so auszeichnet. Da mault und grantelt die fordernde Mutter mit ihrer überdimensionierten Brille in die Kamera, während der nervige Vogel auf ihrer Schulter ihr immer wieder am Ohr knabbert. LaVona (Allison Janney) treibt ihre Tochter erbarmungslos an, haut auch mal zu, wirft gar ein Messer auf sie, das darf sich Tonya dann aus dem Arm ziehen. Ihr Ehemann schmeißt sie gegen die Wand, seine Faust landet in ihrem Gesicht, sie dreht sich um – und spricht in die Kamera einen herrlich trockenen Kommentar. Hinzu kommen die Attentäter, Kleinkriminelle, wie Ehemann Jeff schnauzbärtige Karikaturen ihrer selbst in ihrer grenzenlosen Beschränktheit.

I, Tonya
Margot Robbie spielt Tonya Harding in dem Film „I, Tonya“. © DCM Film

Es wird fast mehr geprügelt als Pirouetten gedreht, der Film begibt sich in die tiefsten Niederungen des White Trash. Bei allem Talent, Tonya Harding scheint sich irgendwie auf das Eis verirrt zu haben. Boxen oder Fußball hätten besser gepasst. Sie raucht, flucht, schießt auf Eichhörnchen und schraubt gerne an Autos herum. Zum Schluss darf sie nicht mehr auf das Eis, wird auf Lebenszeit gesperrt, muss sich durchschlagen. Nun boxt sie tatsächlich, kriegt voll auf die Fresse, fällt hin. Bleibt liegen. Und steht wieder auf.

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Filmografische Angaben

Originaltitel: I, Tonya
Deutscher Titel: Ich, Tonya
Land: USA
Jahr: 2017
Regie: Craig Gillespie
Drehbuch: Steven Rogers
Kamera: Nicolas Karakatsanis
Schnitt: Tatiana S. Riegel
Musik: Peter Nashel
Schauspieler: Margot Robbie, Sebastian Stan, Mckenna Grace, Caitlin Carver, Allison Janney, Bojana Novaković, Julianne Nicholson, Jason Davis
Produktion: Steven Rogers, Tom Ackerley, Margot Robbie, Bryan Unkeless
Länge: 120 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Fritz Hermann Köser wurde im WELTEXPRESS am 20.3.2018 erstveröffentlicht.

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