Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Seit Ostern gibt es in Berlin ein neues Opernorchester, das Opernkinderorchester der Staatsoper Unter den Linden. Zwar gab es in Berlin wiederholt Streit, ob das vereinigte Berlin drei Opernhäuser (und Opernorchester) brauche, aber heute, in Zeiten höherer Steuereinnahmen, ist das (auf dieser Ebene) kein Problem mehr. Die jungen Musiker bekommen ja auch kein Gehalt, und die Staatsoper bringt es bei Zuschüssen von 56 Millionen Euro und zusätzlich Geld von Stiftungen und Sponsoren mit unter. Das Orchester muss auch nicht im Opernbetrieb spielen, sondern nach heutigen Plänen in den alljährlichen Festtagen der Staatsoper, gewissermaßen als öffentlicher »Leistungsnachweis». Die Hauptsache ist ja auch, dass 86 Kinder Freude am Spiel haben und in den Proben und Konzerten das Zusammenspiel beherrschen lernen.
Die Idee hatte der Intendant Matthias Schulz. Die Staatsoper wählte in Zusammenarbeit mit den acht bezirklichen Musikschulen die besten Schüler im Alter von 7 bis 12 Jahren aus. Im Februar 2018 begannen die ersten Proben. Eine intensive Schulung erhielten die Kinder an einem Probenwochenende in der ehemaligen Pionierrepublik am Werbellinsee. Am 20 April fand das erste (ausverkaufte) Konzert in der Staatsoper statt. Wie in der »richtigen» Oper spielte das Orchester die Ouvertüre zur Oper »Apollo und Hyacinthus» von Wolfgang Amadeus Mozart und begleitete Rolando Villacon und Serena Saenz bei den beliebtesten Duetten aus der »Zauberflöte». Bei Auszügen aus Engelbert Humperdinks »Hänsel und Gretel» wirkte der Kinderchor der Staatsoper mit. Schließlich, unter Leitung von Generalmusikdirektor Daniel Barenboim, erklang das komplette musikalische Märchen »Peter und der Wolf» von Sergej Prokofjew, der Text gesprochen von Rolando Villazon.
Berlin hat eine neue elitäre Einrichtung. Ziemlich unklar ist der Zweck des Opernkinderorchesters. Zunächst das Neue: Gemeinsam mit vielen engagierten Künstlern und Mitarbeitern wurden Verbindungen zu den acht bezirklichen Musikschulen geschaffen, die gegenseitig befruchtend sein werden. Das Opernkinderorchester pflegt spezifische Fertigkeiten wie die Begleitung von Sängern und Opernchören und lernt die Musiksprache der Opernliteratur – Fähigkeiten, die bei den Teilnehmern Talente fördern und Berufswünsche wecken können. Die jungen Musiker aus den Musikschulen sind eine Auswahl, die hohe Leistungen verspricht, aber keine Breitenwirkung entfaltet. Sehr verschwommen wirkt die bereits vor einem Jahr von Schulz formulierte Aufgabe, die Kinder zu motivieren, »den alltäglichen Betrieb eines traditionsreichen Opernhauses hautnah zu erleben», und das »auf internationaler Ebene». Das dürfte für Schulkinder praktisch kaum möglich sein, und der Stress und die Theaterkräche sollten ihnen ohnehin erspart bleiben. Die nächste Gala, gemeinsam mit Sängern und Solisten, ist für die Festtage 2020 geplant, und über die weiteren Pläne wird man dann sprechen, sagt die Pressesprecherin Leonie Stumpfögger.
Der Vergleich mit anderen Formen der Musikvermittlung drängt sich auf. Eine gute Breitenwirkung erzielt zum Beispiel das alljährliche Schulorchestertreffen der Berliner Philharmoniker. Dort kommen jeweils sechs Orchester mit 100 bis 200 Kindern und Jugendlichen zusammen (auf die Bühne passen gar nicht alle). Die sind in ihren Schulen verankert und tragen mit ihren Auftritten zum Schulleben bei, wecken bei den Schülern Musikbegeisterung und finden mit jedem Jahrgang neue Mitspieler. Zwischen den Schulorchestern besteht ein gesunder Wettbewerb. Das kann das Opernkinderorchester nicht leisten, aber die Staatsoper hilft ihrerseits den Orchestern der Musikschulen. Das Education-Programm der Berliner Philharmoniker (Kirill Petrenko bevorzugt übrigens den Begriff Musikvermittlung) schart in einigen Berliner Bezirken sangesfreudige Kinder um sich. Die »Vokalhelden» – sie sehen gar nicht so aus – sind nicht ausgewählt, sondern jedes Kind kann kommen, das Lust hat.
Eine eigene Note der Musikvermittlung pflegt das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, dessen Musiker Kammermusikensembles in mehreren Schulen betreuen, was auch eine individuelle Anleitung der Schüler einschließt. In diese Arbeit stürzt sich auch der Chefdirigent Robin Ticciati. Er will die beteiligten Ensembles zur Aufführung des dritten Satzes der Achten von Dvorak im großen Sendesaal des Hauses des Rundfunks zusammenführen.
Den Clou, ein Stück echter Volkskultur, leistet das Deutsche Symphonie-Orchester mit dem Symphonic Mob, der jedes Jahr in der Mall of Berlin hunderte, ja bis zu 1200 Laienmusiker und Sänger vor einer dicht gedrängten Zuschauermenge zum Konzert vereinigt. Da produzieren sich keine Profis. Jeder kann mit seinem Instrument mitspielen. Die Begeisterung bei allen ist unermesslich.
Die Staatsoper selbst unterstützt mit Erfolg eine andere populäre Form des Musizierens und der Musikvermittlung: das »Kinderopernhaus Berlin». Dessen Urform, das Kinderopernhaus Lichtenberg, gründete Regina Lux-Hahn im Jahre 2010. Sie hat inzwischen auch Kinderopernhäuser an Grundschulen in Marzahn und Reinickendorf organisiert. Kleine Ensembles von Grundschülern singen und spielen Oper, erfinden selbst Singspiele, führen sie im Bezirk auf und machen Kinder auf die Oper neugierig. Unterdessen hat die Staatsoper ihre Förderung übernommen und will weitere Projekte in Mitte, Friedrichshain und Köpenick entwickeln. Lux-Hahn hat ihren festen Platz in der Staatsoper.
Mit dem Opernkinderorchester ist eine neue produktive Form der Musikförderung entstanden, aber, nicht zu übersehen, zugleich eine elitäre Form für wenige Auserwählte.
Nicht unproblematisch ist auch: Um die Staatsoper Unter den Linden ist dank der Ambitionen und der Autorität Daniel Barenboims ein Imperium entstanden, das die Oper, einen Kammermusiksaal, eine Musikakademie, ein Opernstudio, eine Orchesterakademie, einen Musikkindergarten sowie die ehrenamtlich fundierten Gemeinschaften, das Opernkinderorchester, einen Jugendchor, Jugendklubs, eine Kompositionswerkstatt und vieles andere umfasst. Derartige »Leuchttürme» werden von Ministern, Parlamenten, großen Sponsoren und Stiftungen gern gefördert, weil der Erfolg sicher ist und der eigene Name Glanz erhält. Das aber ist gewöhnlich »einsame Spitze» und hat mit der deklaratorisch erstrebten Breitenwirkung der Kunst wenig zu tun. Vorzeigeobjekte helfen nicht, das Orchestersterben, das Zusammen-Schrumpfen von Orchestern und Theatern, die Schließung von Bibliotheken und Museen aufzuhalten. Vor allem wird der schrumpfende Musikunterricht in den Schulen und die skandalöse Unterbezahlung der Lehrer an den Musikschulen damit nicht verhindert. Und bei weitem nicht alle interessierten Kinder werden in die Musikschulen aufgenommen. Niemand wird von der Staatsoper oder anderen »Leuchttürmen» verlangen, dass sie staatliche Kulturpolitik machen. Sie haben Ideen und wünschen sich die Mittel, um sie zu verwirklichen. Doch »der Staat», Bundesregierung, Landesregierungen und so weiter, muss sich überlegen, wie er seine Mittel verteilt, um auch »in der Fläche» ein interessantes Kulturangebot zu sichern und die Teilhabe seiner Bürger am Kulturleben zu fördern. Dann könnte es nicht passieren, dass zum Beispiel das »klingende Klassenzimmer» der Berliner Symphoniker weggespart werden konnte.
Dennoch: das Opernkinderorchester ist eine schöne Erfindung, macht den musizierenden Kindern, den Lehrern und Mentoren aus der Staatsoper Spaß, fördert Talente und begeistert das Publikum. Drei Konzerte werden noch stattfinden: am 5., 6. und 19. Mai in der Staatsoper Unter den Linden.
Karten unter 030 20354555 oder tickets@staatsoper-berlin.de