Goldener Bär für Schwimmende Psychiatrie – Der Dokumentarfilm „Sur l’adamant“ von Nicolas Philibert

"L’Adamant" auf der Seine in Paris. © TS Production / Longride

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Mit „Sur l’Adamant“ gewinnt bei der angeblich 73. Berlinale ein Dokumentarfilm über eine schwimmende Tagesklinik in Paris den Goldenen Bären.

Die diesjährige Berlinale ist beendet und die Bären sind verliehen worden. Gewinner des Goldenen Bären ist nach 2016 – damals wurden die Macher des Films „Fuocoammare“ geehrt – wieder ein Dokumentarfilm geworden. Die Jury um Präsidentin Kristen Stewart hat sich für den Film „Sur l’adamant“ von Nicolas Philibert entschieden. Dabei dreht sich alles um das Schiff „L’Adamant“ (deutsch: die Unnachgiebige) beziehungsweise um das, was darauf passiert oder – besser gesagt – um die Menschen auf diesem „Dampfer“.

Selbst entscheiden dürfen – ein großer Vorteil. Realisiert auf dem Schiff „L’Adamant“ auf der Seine

Die L’Adamant ist eine schwimmende Tagesklinik für Menschen mit psychischen Problemen. Sie liegt an den Ufern der Seine mitten im Herzen von Paris. Personen mit psychischen Störungen erhalten dort Unterstützung und Hilfe, um ihren Alltag zu bewältigen. Dabei gehen Patienten und Betreuer einen Weg des Miteinanders und organisieren den Alltag und die Freizeitaktivitäten zusammen, darunter Workshops, einen Filmclub, Malen, Tanz- wie Musikstunden oder einfach nur das Nichtstun, gerne auch Relaxen genannt. An diesem Ort in der Metropole dürfen die Patienten das, was sie tun (oder unterlassen), also Teilnahme an Kursen und Freizeitaktivitäten, selbst mitbestimmen. Auf das Konzept der medizinischen Autoritäten, die den Patienten vorschreibt, was sie zu tun haben, wird auf „L’Adamant“ gänzlich verzichtet.

Nicolas Philibert, der Regisseur, Kameramann und Schnittmeister mit Janusz Baranek, wendet sich in seinem Film gegen die Stigmatisierung von psychisch Kranken, die in unserer Gesellschaft besteht. Er will ihnen eine Stimme geben. Was er in seiner Doku im wahrsten Sinne des Wortes auch tut. Er hält die Kamera auf die Leute der Stadt und lässt sie erzählen. Hält sich selbst zurück, in dem er keinen Kommentar, eine Erzählerstimme oder irgendeine Form der Erklärung oder Kritik hinzufügt. Er lässt diese Menschen für sich selbst sprechen. Er hält sich somit bei den üblichen Normen oder Klischees, die einem Dokumentarfilm normalerweise innewohnen, zurück. Ihm scheint es beim Drehen ums Entdecken und Zeigen zu gehen. Philibert verzichtet auf eine von oben herabschauende Erzählweise. In „Sur l’adamant“ stehen Patienten und Betreuer kommentarlos im Vordergrund. Und es gibt Momente, wo man sich nicht sicher ist, ob wir einen Patienten oder einen Betreuer vor uns haben, der zu uns spricht. Die Patienten der „L’Adamant“ präsentieren sich als normal erscheinende Personen, die vielleicht komisch, kauzig und schräg erscheinen, aber dennoch nicht unsympathisch oder gar mitleidig auftreten.

Goldener Bär 2023: gewöhnungsbedürftige Form – Doku ohne Kommentare

„Sur l’adamant“ ist durchaus spannend anzuschauen, auch wenn sich die Rote Linie wie ein Kanal schnurstracks durch die Doku zieht. Nicolas Philibert bleibt den ganzen Film hindurch seiner Linie treu. Der Focus liegt auf den Patienten, auch Klienten genannt. Dennoch lässt mich der Streifen nach dem Schauen des Films nicht los, ein unbefriedigendes Gefühl bleibt nicht im Lichtspielhaus. Nach spätestens eineinhalb Stunden haben wir sehr viel von den Patienten der L‘Adamant gesehen und gehört. Wir sind nicht mitgefahren, aber wir haben etwas erfahren, aber nicht genug. Nicht genug über das Schiff L’Adamant, nicht genug über das Konzept der Schwimmenden Psychiatrie beziehungsweise Tagesklinik, nicht genug über die Kritik an dieser und deren Protagonisten – von mir aus auch Patienten – an anderen Einrichtungen, ganz zu schweigen von einem wissenschaftlichen Verstehen und Erklären.

Viele Fragen lässt der Film offen und das offenbar ganz bewußt. Nicolas Philibert präsentiert den Zuschauern vorgefertigte Antworten, scheinbar auch nicht seine oder eben genau diese (seine). Philibert läßt in seinem Film die Welt auf dem Fluß für sich sprechen und sagt wenig.

Diese Form des Dokumentarfilm ist nicht ungewöhnlich, aber gewöhnungsbedürftig. Er zeigt durchaus eine Perspektive der Dokumentation auf, die sich am Ende etwas erschöpft. Wer’s mag?!

Filmographische Angaben über den Film mit dem Preis Goldener Bär 2023

  • Originaltitel: Sur l’adamant
  • Englischer Titel: On the Adamant
  • Genre: Dokumentarfilm
  • Staaten: Frankreich, Japan
  • Jahr: 2022
  • Regie: Nicolas Philibert
  • Kamera: Nicolas Philibert
  • Montage: Janusz Baranek, Nicolas Philibert
  • Ton: Francois Abdelnour
  • Sound Design: Érik Ménard
  • Produzent: Céline Loiseau, Gilles Sacuto, Miléna Poylo
  • Koproduzent: Norio Hatano
  • Spieldauer: 109 Minuten

[ Goldener Bär 2023 an einen Dokumentarfilm: Das allein ist ungewöhnlich. Gab es keinen Spielfilm, der besser war? Das wäre die logische Schlussfolgerung. So urteilte der öffentlich-rechtliche Fernsehfunk der Bundesrepublik Deutschland am 26.2. in den ttt der ARD, dass nach einer „Berlinale ohne Höhepunkte“ „erstmals“ ein Dokumentarfilm gewonnen hätte. Versöhnlich wurde nach einem Beitrag über einen der Silber-Bären-Filme hinzugefügt, dass „am Ende die richtigen gewonnen“ hätten. Immerhin. Das ist ja auch nicht selbstverständlich. d. Red.]

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