Bregenz, Österreich (Kulturexpresso). Am Sonntagabend, den 21. August 2022, feierten die Bregenzer Festspiele unmittelbar nach einer wahren Sintflut von Regenfällen und katastrophalen Überschwemmungen im österreichischen Bundesland Vorarlberg den triumphalen Abschluss einer sensationell erfolgreichen Sommersaison: Mit der letzten Vorstellung von Puccinis „Madame Butterfly“ auf der Seebühne. Musikalisch überragend war diese Inszenierung von Puccinis „exotischer“ Oper szenisch das Beste, was ich weltweit je an Butterfly-Produktionen sehen durfte: schlicht atemberaubend. Und am 20. Juli nächsten Jahres wird diese fantastische Inszenierung erneut Premiere feiern – für eine zweite Serie von Vorstellungen, die in dieser Saison sämtlich bis auf den letzten der Tausenden Plätze ausverkauft waren: verständlicherweise…
Mit „Madame Butterfly“ hatte die Seebühne einen neuen Volltreffer gelandet. Nach der eigenwilligen, turbulenten und konsequent umgesetzten Umdeutung von Verdis „Rigoletto“ als Zirkusvorstellung mit dem gigantischen Clown-Kopf und seiner sensationellen Technologie im Mittelpunkt hat Bregenz mit „Madame Butterfly“ in der Regie von Andreas Homoki einen kühnen Kontrapunkt gesetzt: Erstmals ein statisches Bühnenbild (Michael Levine), dessen Stärke in vollendeter Poesie, klar umgesetzter Metaphorik und beeindruckenden High-Tech-Projektionen besteht. Die stimmlichen Leistungen, vor allem der jungen Cio-Cio-San alias „Butterfly“ (Elena Guseva) und des Tenors Lukas Zaleski als Pinkerton als grandios; die Wiener Symphoniker unter Yi-Chen Lin gaben an dieser „Dernière“ mit feinster Subtilität und gewaltigen Klangwolken ihr Allerbestes. Die ebenfalls hervorragende Premierenbesetzung am 20. Juli: Cio-Cio-San alias „Butterfly“: Barno Ismatullaeva und Edgaras Montvidas als Pinkerton.
Anfänglich war man, auf den ersten Blick, fast ein wenig enttäuscht, nach den spektakulären Bühnenbildern der letzten Jahre – doch der Schein trügte: Unmittelbar nach Beginn der Oper erwies sich die Enttäuschung als grandiose Täuschung: Dieses Bühnenbild, die Technologie und die damit verbundene Metaphorik sind schlicht großartig. Da ist nicht weiter als ein simples, zerknittertes Blatt das auf der Seebühne aus den Fluten aufsteigt. Doch dieses Bühnenbild ist mit seinen 1340 Quadratmetern fast doppelt so groß wie das des „Rigoletto“ in den letzten beiden Jahren, es besteht aus 117 Einzelteilen in Holz, Metall und Styropor, es misst 33 mal 23 Meter, wiegt 300 Tonnen ist auf 119 hölzernen und Pfählen im Seeboden verankert und hat, wie alle Bregenzer Bühnenbilder, allenfalls schwere Schneelasten zu tragen und im Sommer Stürmen und Wellen zu trotzen: Der Eindruck der Schwerelosigkeit dieses weißen Papierblatts ist eine Täuschung – eine Illusion, ebenso wie die vermeintliche Ehe zwischen Butterfly und Pinkerton. Das Papier verkörpert die Zartheit und Verletzlichkeit der 15-jährige Geisha, die sich in den amerikanischen Seemann verliebt – zugleich ist es eine kulturelle Anspielung an die alte japanische Tradition der Papier-Faltkunst Origami. Doch dieses Papier ist nicht von ästhetischem Raffinement, sondern zerknüllt wie die Hoffnungen der „Butterfly“ – und die Westler, vor allem Pinkerton und später auch seine Frau Kate, betreten die Bühne durch eine Öffnung, die in dieses Blatt Papier gerissen wurde: deutlicher kann die Symbolik nicht sein, und auch die mächtige amerikanische Flagge, deren Mast brutal das Papierblatt und damit die uralte japanische Kulturlandschaft durchstößt und die während Pinkertons patriotischem Ausbruch (der von Puccini mit „Stars and Stripes“ so brillant in Musik gesetzt wurde) emporwächst ist ein überdeutliches Symbol des gewaltsamen Eindringens einer westlichen Kolonialmacht in „exotische“, während Jahrtausenden gewachsenen Kulturen. Dass Pinkerton – später auf das Blatt projiziert – in einem amerikanischen Kriegsschiff in Nagasaki einfährt, spricht eine deutliche Sprache.
Das scheinbar nur weiße Blatt entpuppt sich rasch als Projektionsfläche für subtile Bilder: Eine japanische Berglandschaft, wie mit Tusche hingemalt – und irgendwie auch die Fortsetzung zur Berglandschaft des Bregenzer Pfänders, der rechts von der Seebühne aufragt. Raffiniert ändert sich die Farbe dieses Blattes und widerspiegelt die seelischen Vorgänge in der 15-Jährigen: Liebe, Hoffnung, Schock, Enttäuschung. Am Ende, nach dem Selbstmord der Geisha, geht das Blatt und schließlich auch die ganze Bühne in Flammen auf. Wie in jeder Bregenzer Inszenierung bot der See zugleich Chance und Herausforderung: Er muss jeweils einbezogen werden. Hier wird Prinz Yamadori (Patrik Reiter) auf einer riesigen Sänfte – auf einem für die Zuschauer nicht sichtbaren Unterwasser-Schlitten, von Höflingen in Butterflys bescheidene Behausung durch das Wasser in getragen und der ebenso lästige wie korrupte Heiratsvermittler Goro (Michael Laurenz) von Butterfly kurzerhand in die Fluten des Bodensees geworfen (glücklicherweise ein guter Schwimmer). Ein wie von Kinderhand (von Butterfly s dreijährigem Sohn?) gefaltetes Papierschiff, bemalt mit blauen Stars and roten Stripes ist eine Anspielung auf das Schiff, welches Pinkerton nach Japan und wieder zurück nach Amerika getragen hat. Und der lästige Heiratsvermittler Goro wird von Butterfly in die Fluten gestoßen (er ist unverkennbar ein ausgezeichneter Schwimmer).
Überaus ästhetisch (die farbenprächtigen und authentischen Kostüme: Antony McDonald) der Aufmarsch der Geishas in schwindelnder Höhe am oberen Rand des Blattes, die Schar der weißen Geister, kontrastierend mit den Kostümen der vier amerikanischen Protagonisten in ihren grellen Farben Blau (Pinkerton – Anspielung auf seine Uniform), Kanariengelb (Sharpless) und Rosa (Kate) als naive Amerikanerin, die weder mit dieser Kultur noch mit dieser Situation irgend etwas anzufangen weiß.
Die „Butterfly“ hat man schon unzählige Male auf allen Bühnen des Erdballs gesehen – und wie bei der „Bohème“ gleicht eine Inszenierung der nächsten wie ein Ei dem anderen: Die Schauplätze sind vorgegeben und Bühnenbilder sowie Regisseur bleibt wenig Spielraum für Originalität und Kreativität. Hier war das ganz anders: Das in sämtlichen Inszenierungen aufgestellte, traditionell japanische Haus des Paares mit seinen Papierwänden wird konsequent weggelassen, und das ist richtig so: Bei dessen Kauf beschreibt es Pinkerton ja anschaulich genug – man hat es sich einfach vorzustellen. Dadurch gewinnt die Inszenierung an Abstraktion und zusätzlichem künstlerischem Wert. Auch der Auftritt des „bösen“ weil traditionsbewußten Onkels Bonzo mit seinem Gefolge, der ausnahmslos in jeder anderen Inszenierung effektvoll erfolgt, fand hier physisch nicht statt – stattdessen erschien das riesige, fratzenhaft verzerrte Antlitz des Onkels als riesige Projektion auf der Leinwand.
Mit höchsten Raffinement wurde der stumme Chor der weißen Geister eingesetzt: Sie schwebten auf die Bühne und lösten sich alsbald wieder auf, sie kaschierten die plötzlich in irgendeiner unsichtbaren Versenkung verschwindenden und dann in Sekunden wie aus Zauberkraft anderswo in neuem Kostüm wieder auftauchenden Protagonisten. Es war schlichtweg großartig, wie der Regisseur Homoki mit diesem intimen Stoff, dieser eigentlichen Kammeroper mit zumeist nur einer bis drei Personen auf der gigantischen Bregenzer Bühne umgegangen ist: Die Figuren bewegen sich stets und meist sehr rasch in diesem riesigen leeren Raum, der in zahlreiche auf- und abführende Wege unterteilt wurde. Niemals entstand so der Eindruck von Öde oder szenischer Langeweile, da dieser Raum stets optimal genutzt wird – von den sich bewegenden Protagonistinnen und Protagonisten in ihren leuchtend farbigen Kostümen (die Amerikaner) und den subtil-pastellfarbigen oder fein bemalten Kimonos (die Japaner). Auf der stets offenen Seebühne, die ja keine Vorhänge und in dieser Inszenierung auch keine verschiebbaren Kulissen bietet, musste eine andere Lösung gefunden werden für Abgänge und Auftritte und vor allem für die große Zäsur zwischen der Abreise von Pinkerton und dem Warten der Butterfly mit ihrem inzwischen schon dreijährigen Sohn. Meisterhaft inszeniert und fast unerträglich berührend der Traum der vor Erschöpfung in der letzten Nacht eingeschlafenen Butterfly von der Wiederbegegnung mit ihrem geliebten Pinkerton: Man fragt sich, wie diese Stelle in anderen Produktionen anderer Opernhäuser inszeniert wird – falls überhaupt… Und ebenso klug wie beeindruckend, dass in dieser Inszenierung das Häuschen, welches Pinkerton (ebenso wie seine 15jährige japanische Braut – oder Konkubine) „für 999 Jahre“ erwirbt nur als abstrakte, virtuelle Realität existiert – im Gegensatz zu sämtlichen anderen Inszenierungen sämtlicher anderer Opernhäuser, welche brav das japanische Papierhäuschen mit seinen verschiebbaren Wänden als Kulisse nachbauen…
Musikalisch war diese Inszenierung überragend: An erster Stelle „Butterfly“, die ja in diesen zwei Stunden permanent auf der Bühne ist. Die russische Sopranistin Elena Guseva vollbrachte diese Glanzleistung mit Bravour: Ihre klare, starke Stimme, mit ihrem warmem Timbre ergoss sich in höchste Harmonie und Feinheit über die Bühne wie das Meer von Kirschblüten, welche die Geisha als Willkommensgruß für ihren scheinbar zu ihr zurück gekehrten Ehemann. Guseva brachte mit ihrer jungen, wunderschönen Stimme das ganze, breite weites Spektrum an Emotionen in dieser Oper zum Ausdruck: Liebe, Enttäuschung, Verzweiflung. Ihr zur Seite stand der erstklassige litauische Tenor, der vor allem im Duett mit seiner Butterfly im Zentrum der Oper den edlen Schmelz seiner Stimme zum Tragen brachte. Als Kontrast der kanadische Bariton Brett Polegato, der dem Sharpless stimmlich all jene Wärme und Stärke verlieh, welche er – als ein in Japan stationierter und mit der Kultur und Mentalität des Gastalandes wohl vertrauter Konsul – mit großem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl der jungen Frau gegenüber verwendete.