Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Das auf dem Schutzumschlag eines Buches der sachdienliche Hinweis Roman zu lesen ist, geschenkt. Autor und Titel müssen sein, der Verlag darf draufstehen. Doch der Hinweis darauf, dass der Autor beziehungsweise in diesem Fall die Autorin Harper Lee den Weltbestseller „Wer die Nachtigall stört“ schrieb, konnte der Verlag offenbar nicht weglassen. Für den 1960 veröffentlichten Roman über Kindheit, Heranwachsen und vom Rassismus im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) erhielt Lee ein Jahr später den Pulitzer-Preis. Anschließend wurde das erste und einzige Werk der 1926 in Monroeville im US-Bundesstaat Alabama geborenen Autorin in über 40 Sprache übersetzt und erreichte eine Auflage von über 40 Millionen Exemplaren.
55 Jahre nach dem Debüt liegt quasi der zweite Band der scheinbaren Autobiografie vor, der die Geschichte von Jean Louise Finch, kurz Scout genannt, fortsetzt. Warum so spät? Weil das „bisher als verschollen“ geltende Manuskript erst „im September 2014 … entdeckt“ worden sein. Warum Autobiografie? Weil die Figur des Atticus Finch dem Vater von Lee nachempfunden und die Nachbarschaft ihrer Kindheit zu entsprechen scheint, auch wenn Lee das leugnete.
Wie auch immer, das Buch „Go Set a Watchman“ („Gehe hin, stelle einen Wächter“) ist eine Vorgängerversion von „To Kill a Mockingbird“ („Wer die Nachtigall stört“). Richtig, der deutsche Titel des ersten Romans ist doof. Das zweite Buch, bei der Münchner DVA verlegt, wurde von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzt, und wurde nach Verlagsangaben vor dem ersten Buch Mitte der 1950er Jahre geschrieben.
Der Fortsetzungsroman dreht sich aus Sicht der Nachtigall-Heldin vor allem um den geliebten Vater und Anwalt Atticus Finch sowie den gemochten Freund und Anwalt Henry Clinton (Hank), welche die mittlerweile 26-jährige, für zwei Wochen Ferien aus dem rast- und ruhelosen New York ins ruhige und romantische Maycomb zurückgekehrt, nach einem einschneidenden Erlebnis mit anderen, erwachsenen Augen sieht. Aus Observation wird Opposition. Zum neuen Wissen um den ganz normalen Wahnsinn des Rassismus packt Scout ihr Gewissen, doch sie zieht nicht los gegen das Pack und Pöbel. Mit Moral macht sie weder auf Protest noch auf Widerstand in Maycomb. Immerhin hält sie die eigene und ihr fremd gewordene Familie auf Trab. Dabei bröckelt der zum Bollwerk des rechtschaffenen US-amerikanischen Bürgers gebackene Atticus, der auf einer Bürgerrechtssitzung mit Abgesandten des Ku-Klux-Klan für Rassentrennung plädiert und sich als Gegner der National Association for the Advancement of Colored People positioniert, aber er fällt nicht. Der Vater als moralische Instanz ist nicht ohne Fehl und Tadel. Aber die Bande der Familie sind stärker. Am Ende verhandelter Gegensätze von Nord und Süd, Mann und Frau, Vater und Tochter, Schwarz und Weiß fallen sich Vater und Tochter wieder in die Arme. Nice.
In der FAZ (16.07.2015) hält Felicitas von Lovenberg fest, dass „beide Romane … um die persönliche Gerechtigkeitsinstanz, die niemand delegieren kann“, „kreisen: ‚Das Einzige, was sich keinem Mehrheitsbeschluss beugen darf, ist das menschliche Gewissen‘, lautet einer der zentralen Sätze in Wer die Nachtigall stört‘. In ‚Gehe hin, stelle einen Wächter‘ – der Titel bezieht sich auf einen Vers aus dem Buch Jesaja – heißt es: ‚Die Insel eines jeden Menschen, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht.‘ Doch anders als im Vorläufer stehen solche Aussagen hier im Schatten der Ernüchterung, die Jean Louise erfasst. Wo ‚Wer die Nachtigall stört‘ einen moralischen Kompass bietet, nicht zuletzt durch den Appell zur Empathie, stellt ‚Gehe hin, stelle einen Wächter‘ die Nützlichkeit solcher Selbsterziehungsmethoden radikal in Frage – und bietet als Ersatz nichts anderes als ein grundsätzliches Misstrauen gegen schnelle, scheinbar sichere Antworten.“
Während Harper Lee heute blind und taub in einem Heim wohnt, feiert die literarische Welt das neue Werk. Zwar soll sich Lee „zuletzt … an ihr Erstlingswerk … nicht einmal mehr erinnern“ können, wie Sarah-Maria Decker (Tagesspiegel, 15.07.2015) schreibt, doch laut Verlag, den Decker zitiert, soll sie „überrascht und erfreut“ gewesen sein, „dass ihr Manuskript überlebt habe“. Das zuerst geschriebene und zuletzt veröffentlichte Buch „Gehe hin, stelle einen Wächter“, ist großartig genug, um für sich selbst zu stehen.
Bibliographische Angaben
Harper Lee, Gehe hin, stelle einen Wächter, aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel, 320 Seiten, DVA, Web: www.dva.de, München, 2015, ISBN: 978-3-421-04719-9, Preise: 19,99 EUR (D), 20,60 EUR (A), 26,90 CHF