Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Der große Aufreger beim Theatertreffen war in diesem Jahr keine der zehn bemerkenswerten Inszenierungen, sondern eine Entscheidung von Yvonne Büdenhölzer. Nachdem wieder einmal nur drei Inszenierungen von Regisseurinnen in der 10er-Auswahl vertreten waren, verhängte die Leiterin des TT eine Quote: Bei mindestens 50% der ausgewählten Inszenierungen müssen in den kommenden zwei Jahren Frauen Regie geführt haben.
Diesem Erlass folgten erregte Diskussionen und ein medialer Orkan. Erboste und tief verletzte Kritiker*innen führten die glorreiche Vergangenheit des TT vor Augen, in der die Jury in schöner Eintracht immer die besten, somit auch von Publikum und Medien einhellig bejubelten Inszenierungen ausgewählt habe. Und nun darf es diese, über jeden Zweifel erhabenen, Juryentscheidungen nicht mehr geben. Die Jury wird ihrer Freiheit beraubt und dazu gezwungen, minderwertigen Inszenierungen zu den begehrten Einladungen zu verhelfen, nur weil die von Frauen zusammengebastelt wurden.
Vorgeblich Wohlmeinende gaben zu bedenken, die Quote werde den Frauen eher schaden als nützen, da sie alle Inszenierungen von Frauen mit dem Verdacht behafte, nicht wegen ihrer Qualität ausgewählt zu sein. Ob aber ein solcher Verdacht Regisseurinnen wie Karin Henkel, Yael Ronen oder Barbara Frey wirklich treffen würde und ihnen schaden könnte?
Laut Theatertreffen-Magazin wurden deren Inszenierungen von der Jury diskutiert. Hätte sie sich auch noch auf diese drei einigen können, dann wären beim diesjährigen Theatertreffen, ganz ohne Quote, sechs Inszenierungen von Frauen zu sehen gewesen und nur vier von Männern.
Ganz sicher ist es keine unlösbare Aufgabe, fünf Inszenierungen von Regisseurinnen zu finden, die als bemerkenswert bezeichnet werden können, auch wenn die Zahl der amtierenden Regisseurinnen erheblich viel kleiner ist als die ihrer Kollegen.
Die meisten deutschsprachigen Theater werden von Männern geleitet, die sich nur selten auf inszenierende Frauen einlassen. Regisseurinnen werden weniger gefördert als Regisseure und meistens schlechter bezahlt.
Gesellschaftskritik von Theatern, die in reaktionären Strukturen stecken geblieben sind, kann nicht wirklich überzeugen.
Yvonne Büdenhölzer plädiert dafür, „den Theaterbetrieb nicht nur geschlechtergerecht sondern auch familiengerechter und diverser zu gestalten“. Nicht nur mit der Quote, sondern auch mit der Integration des Projekts „Burning Issues“ ins Theatertreffen, hat Büdenhölzer ihr Engagement für überfällige Theaterreformen bewiesen.
In die Schlagzeilen geriet Anna Bergmann, als sie zu Beginn der Spielzeit 2018/19 am Badischen Staatstheater Karlsruhe Schauspieldirektorin wurde und im Bereich Regie ausschließlich Frauen engagierte.
Jedoch nicht deshalb wurde Anna Bergmann zum TT eingeladen. Die Jury nahm Bergmanns Inszenierung „Persona“ in die 10er-Auswahl auf.
„Persona“ ist eine Adaption des gleichnamigen Films von Ingmar Bergman. Die Regisseurin, nicht verwandt mit dem legendären Filmemacher, hat häufig in Schweden gearbeitet. So ergab sich eine Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin mit dem Malmö Stadsteater. Das Besondere daran ist: In Malmö spielt Corinna Harfouch die stumme Rolle der Schauspielerin Elisabet Vogler, die schwedische Schauspielerin Karin Lithman ist die redselige Schwester Alma, und in Berlin tauschen die beiden Protagonistinnen die Rollen.
Für alle, die Ingmar Bergmans Film gesehen haben, dürfte die Darstellung der beiden Frauen durch Liv Ullman und Bibi Andersson unvergesslich sein. Vergleiche jedoch drängen sich an diesem Theaterabend nicht auf, denn Anna Bergmanns Inszenierung erscheint wie eine Bestätigung der Wahrhaftigkeit des Filmstoffs. Die Bühnenhandlung geschieht hier und heute, nicht als Teil eines fernen Kunstwerks, sondern als greifbare, spürbare Realität, durch die das Kunstwerk auch einige Veränderungen erfährt.
Die Zuschauenden erleben den Horrortrip von Elisabet Vogler. Die prominente Schauspielerin war als Elektra auf der Bühne plötzlich verstummt und weigert sich seitdem, zu sprechen.
Zu Beginn liegt Karin Lithman bewegungslos, wie aufgebahrt auf einer Matratze. Elisabet ist im Krankenhaus, hört verzerrte Stimmen Unverständliches sagen, dazu bedrohliche Geräusche, flackernde Lichter, Bilder aus dem Theater, von ihrem kleinen Sohn. Ein entsetzliches Chaos stürzt auf sie ein.
Die Spannung, von der die erste Szene getragen wird, ist während der ganzen Vorstellung spürbar. Sie geht nicht nur von den beiden großartigen Hauptdarstellerinnen aus, die sie zeitweilig in begeisternde, positive Energie verwandeln. Jeder Ton, jeder Lichtreflex wird zum Ereignis und ist bedeutsam im Gesamtzusammenhang.
Schlaglichtartig und präzise charakterisiert tauchen die Nebenfiguren auf: Franziska Machens als zynisch wirkende Ärztin, die Elisabets Zusammenbruch als Laune einer Diva abtut. Die Ärztin ist mit Elisabet befreundet, scheint ihr jedoch nicht emotional verbunden zu sein. Später verwechselt Elisabets Mann (Andreas Grötzinger) Alma nur allzu bereitwillig mit seiner Frau, die er offenbar nie wirklich wahrgenommen hat.
Bei der Gestaltung des Urlaubsorts am Meer, wo Elisabet, betreut von Schwester Alma, zu sich selbst finden soll, hat Bühnenbildner Jo Schramm eine Anleihe bei Botticelli genommen. Die gesamte Rückwand der Szene nimmt eine riesige, schimmernde Muschel ein, in der die Frauen sich spiegeln. Im knietiefen Wasser davor baden Elisabet und Alma, toben ausgelassen herum und bekämpfen sich schließlich voller Hass und Verzweiflung.
Die Vorstellung dauert nur 90 Minuten. Und doch entsteht der Eindruck einer langsamen Veränderung der beiden Frauen über einen großen Zeitraum hinweg. Alma verjüngt sich zusehends, ihre devote Haltung verschwindet ohne dass sie den Respekt vor Elisabet verliert.
Alma bewundert Elisabet unendlich, möchte so sein wie sie, aber sie will Elisabet nicht auslöschen, sondern gleichwertig neben ihr bestehen. Es gibt keinen Machtkampf zwischen den Frauen.
Obwohl Alma unentwegt redet während Elisabet schweigt, kommunizieren die beiden beständig miteinander. Elisabets starre Haltung lockert sich allmählich, ihr süffisanter Blick wird aufmerksam, zugewandt, liebevoll. Hinter ihrer Überlegenheitspose wagt sich eine zunächst unsichere Frau hervor, die sich dann aber traut, Alma näher zu kommen, sie zu berühren, mit ihr herumzualbern.
Auf einmal sehen Alma und Elisabet einander zum Verwechseln ähnlich, beide nixenhaft mit langen, weißblonden Haaren, beide von Kostümbildnerin Lane Schäfer mit schönen, langen Kleidern ausgestattet, die sie dauernd wechseln, wenn sie im Wasser klatschnass geworden sind.
Alma ist nicht zu Elisabet geworden und Elisabet nicht zu Alma. Jede von ihnen ist aus ihrem bisherigen Leben ausgestiegen. Miteinander haben sie sich von ihren Fesseln befreit und sind eins geworden, eine neue Frau, die sich in einer anderen, gleichen, spiegeln und erkennen kann.
Das ist ein berauschender, seliger Ausnahmezustand, der nicht andauern kann. Ein Verrat zerstört das gerade erst entstandene Vertrauen. Ihm folgen hässliche tätliche Auseinandersetzungen, Prügeleien mit blutigen Verletzungen, zugefügt mit der Absicht, die andere oder sich selbst zu töten.
Dieses außer sich Sein, auch im Schmerz und in der Wut, gehört zu der Freiheit, die Alma und Elisabet gemeinsam erworben haben. Am Ende sind sie ratlos und wie ausgebrannt, und Elisabet steigt wieder aus ihrer Rolle aus.
Auf deutsch fluchend verlässt Karin Lithman die Bühne und nimmt im Zuschauerraum Platz, um von dort zu verfolgen, wie die Geschichte weiter geht. Alma bleibt zurück, steht wie ein Häufchen Elend an der Rampe, und nun ist es Alma, die schweigt.
Während der Vorstellung wird ein Text von Etel Adnan eingespielt, ein Plädoyer für das Leben. So lässt sich auch, trotz allem, Anna Bergmanns Inszenierung „Persona“ verstehen.
Beim Theatertreffen reagierte das Publikum mit begeistertem Schlussapplaus und Bravorufen für Corinna Harfouch und Karin Lithman.