Berlin, Deutschland/ Linz/ Österreich (Kulturexpresso). Chicago in Berlin! Das wurde aber auch Zeit. Mit einem wunderbaren südafrikanischen Ensemble, darunter hervorscheinend unter anderem Ilse Klink als Mama Morton, Grant Towers als unauffälliger Amos Hart, Ehemann von Roxie, die von Carmen Pretorius verkörpert wurde. Das blonde Gift. Samantha Peo ist Zellengenossin Velma Kelly. Betörend. Und verstörend, wenn am Ende die Vereinigten Staaten gelobt werden, und wie toll man dort leben könne. Das sagt Velma Kelly, eine schuldige, aber freigesprochene Mörderin wie Roxie Hart. Ein Freispruch dank der Staranwalts Billy Flynn, hier souverän von Craig Urbani gemimt.
Glanzvolle CHICAGO-Premiere: „Komm mit mir nach Chicago“!
Ein Auszug aus der Gästeliste der Premiere, die am Donnerstag, den 4. Juli 2019 stattfand. Es war kaum ein Hineinkommen in den Berliner Admiralspalast. Regina Halmich, die Boxweltmeisterin sowie die Schauspielerinnen Katrin Wrobel, Sarah Tkotsch und Ulrike Krumbiegel standen auf der Gästeliste.
Ulrike Krumbiegels vermutlich erster Film hieß „Komm mit mir nach Chicago“; (1982, anderen Angaben zufolge 1981). Der Regisseur Bodo Fürneisen, der am 30. Juni seinen 69. Geburtstag feierte, entdeckte Krumbiegel während der Studienzeit und gab ihr die weibliche Hauptrolle in „Komm mit mir nach Chicago“, einem DDR-Fernsehfilm.
Der Filmtitel könnte auch eine Aufforderung zum Besuch des Musicals sein.
Illustre Premieren-Gästeliste
„Chicago“ ist ein Musical, kein Wunder, dass auch das Kommen der Schauspielerin und Muscialdarstellerin Ann Hofbauer angekündigt war. Weiterhin die Theater- und Filmschauspielerin Judy Winter sowie Claudio Maniscalco, der schauspielernde Sänger und Synchronsprecher. Schon seine Mutter war Sängerin. Der Möllner trat unter anderem in den Filmen „Sylter Geschichten spezial“ (1994), „Go, Trabi, Go!“ und „Eurocops“ (beide im Jahr der Wiedervereinigung) auf. Ob ihm bei seiner Rolle in letzterem die Erzählungen seines Vaters geholfen haben? Schließlich war dieser ein europäischer Polizist (aus Italien). 2000 verkörperte Maniscalco Roy Black in dem Musical „Ganz in weiß“, seit 2003 heißt das Motto seines eigenen Konzertprogramms „Viva l‘Amore“. In der Serie „Zwei alte Hasen“ spielte Maniscalco 1994 neben Harald Juhnke eine Frau.
Kollege Santiago Ziesmer singt zwar nicht als Beruf, doch manchmal bei der Arbeit in den beiden anderen Jobs, die er mit Maniscalco gemein hat. Weitere avisierte Gäste der Chicago-Premiere waren die Schauspielkollegen Timo Jacobs („Fleisch ist mein Gemüse“ (2007); „Eine wie keine“, „Ostsee“ (beide 2009); „Bornholmer Straße“ (2014)), der genauso junge Mathias Junge („Reach for the Stars“, „Ein ganz normaler Tag“), Bülent Sharif, Max Gerlinger, Raffaello Kramm, Niels Bruno Schmidt, Rainer Strecker, Jakob Grün und Falk-Willy Wild. Schauspieler Christian Alexander Rogler ist auch Produzent, Julian Stoeckel im Zweitberuf Designer. Die Designerin Sonja Kiefer sollte auch kommen, gesehen haben wir sie im Gedränge nicht. Genausowenig wie die Schauspielerinnen (ohne Stern) Marie Burchard, Henny Reents und Esther Zimmering oder die Hoteltesterin Reni Walther.
CHICAGO: Zeitlos
Und was gab es für all‘ diese wichtigen und die namenlosen Premierengäste zu sehen?
Ein zeitloses Stück zum Thema: Egal, ob schuldig oder nicht, du darfst dich nicht erwischen lassen. Und wenn doch: Freispruch ist möglich, und das Auf-den-Kopf-Stellen von Moral. Wenn man es richtig anstellt, lieben einen erst die Medien und dann alle. Sogar als Mörder.
Diesmal lohnt es sich besonders, sind doch die zeitlosen Aussagen besonders aktuell und die schönen Lieder voller Wahrheiten, die wir nicht vergessen dürfen.
Chicago – drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika! Welche Städte haben am meisten Einwohner?
Für hiesige Leser unvermutet ist Chicago in Illinois die Nummer 3. Das vielerwähnte, gutvermarktete New York steht nicht nur im Bewusstsein („Der Prinz von Zamunda“), sondern tatsächlich an erster Stelle. Los Angeles mit der Traumfabrik Hollywood ist die Nummer 2.
Die PH-Stadt Philadelphia in New-York-Nähe ist auf Platz 6. Phoenix in Arizona ist wie ein Phönix aus der Asche auf Platz 5 geschossen, wer hätte das gedacht! Zur Wiedervereinigung war Phoenix noch nicht einmal Millionenstadt. Houston vermutet man trotz der Apollo-Mission nicht an 4. Stelle. Texas ist mit San Antonio, Dallas und Austin insgesamt viermal unter den ersten 11 und damit so häufig wie kein anderer Bundesstaat auf den ersten elf Plätzen vertreten.
In den Top-Ten der US-Städte – nur diese sind sämtlich Millionenstädte – ist außer Texas auch Kalifornien dreimal vertreten. Nicht mit San Francisco, das sich immer wieder hervortut und seit den „Straßen von San Francisco“ mit Karl Malden und Michael Douglas unvergessen ist; denn „Frisco“ fristet abgeschlagen ein Dasein auf Platz – jetzt schlägt‘s – 13! SF dümpelt in der Rangliste zwischen den in Europa recht unbekannten Orten Jacksonville und Columbus (Ohio) dahin, eine weitere Überraschung. Nein, Kalifornien ist noch mit San Diego und San José vertreten.
Obendrein hätte wohl kein Ausländer vermutet, dass Jacksonville die größte Stadt Floridas ist. Miami dagegen hat nur halbsoviel Einwohner und erreicht nicht einmal eine halbe Million (Städteplatz 42).
Dabei wird sich an den Medaillenplätzen Gold für NYC, Silber für L.A. und Bronze für Chicago in absehbarer Zeit nichts ändern. Zu groß der Vorsprung. Dabei hatte Chicago 1980 mal über drei Millionen Einwohner und bleibt seitdem wenn auch recht knapp, so doch deutlich unter dieser Marke, die nur L.A. (4) und New York (mit achteinhalb Mio.) durchbrechen.
Warum assoziiert man ausgerechnet Chicago mit Verbrechen, mit Mord und Totschlag?
Fazit: Wenn etwas für Chicago (aus-)gesagt wird und ein Musical sogar danach benannt ist, hat das eine große Aussagekraft.
Als Verbrechensbrennpunkt gelangte Chicago unter anderem durch Spike Lee und die Schwarzweiß-Serie „Chicago 1930“ ins Bewusstsein. Alkoholschmuggel, Verbrecher im Nadelstreifen, Maschinenpistolen und behütete Polizisten tauchten nicht umsonst immer wieder in der Serie auf, die auch unter „Untouchables – Die Unbestechlichen“ firmiert.
Morde an der Tagesordnung. In Chicago wohnen viele Mörder, sechs Frauen aus dem Zellenblock „Tango“ bilden den Hintergrund für das Musical.
Ihr teils hübsches Äußeres und der clevere Druck auf die Tränendrüse durch Anwalt und Boulevardpresse lassen die Doppelmoral umso stärker erkennen. Am Ende des Stücks und zwei Freisprüche weiter ertappen wir uns im Publikum dabei, dass wir mit den Mörderinnen sympathisieren und im Gerangel unter ihnen Partei ergreifen. Dabei vergessend, dass beide Figuren das wichtigste der zehn Gebote brachen und keine gute Gesellschaft sind. Verabscheuungswürdige Elemente der Gesellschaft kommen ins Rampenlicht und werden gefeiert; das Volk macht mit.
Gehenkt wird nur eine von 49 Frauen aus den Todeszellen – eine Ausländerin beziehungsweise Person mit Migrationshintergrund, die mit ungarischem Akzent ständig nur zwei Worte sagt: „Not guilty“ – „nicht schuldig“.
Mit dem Klischee hässlich = böse wird nebenbei aufgeräumt. Denn ist gibt offensichtlich auch Hässliche, die nicht böse sind, und nicht nur gute Schöne.
Dabei tappen wir auch in die Genderfalle. Das Geschlecht Frau wird in eine falsche Schublade einsortiert, Ergebnis: Schöne Frauen können nicht böse sein.
Ein grandioses Musical mit Hintersinn
Zu einer grandiosen Leistung, die auch die Harmonie im Team widerspiegelt, kommt ein aktueller Hintersinn. Die Manipulation der öffentlichen Meinung, zum Beispiel zu Syrien, und Fake News – zu Global Warming und vielem mehr, You name it – müssen ins Gedächtnis gerufen werden, als was sie sind. Das Musical führt es einem vor Augen und verrät fast alle Tricks.
Erfolg und Ansehen kann sogar der Mörder erlangen, dem eigentlich die Bürgerrechte aberkannt werden müssten. Nur ein bisschen Geld und ein bisschen PR stehen zwischen den klaren Verhältnissen und einer vorgegaukelten Welt, auf die wir hereinfallen.
Bühne, schauspielerische, sängerische und Gesamtleistung
Die Bühne im Admiralspalast wirkt zunächst eng; die grandiosen Schauspiel- und Gesangsleistungen machen das schnell vergessen. Die Bühne kennt man von der Anlage von früheren Aufführungen her:
Grant Towers als Amos Hart erntet immer wieder Extraapplaus für seine Rolle des unauffälligen Normalen, der weder heraussticht noch überhaupt bemerkt wird. Highlight: Der weißbehandschuhte Song „Cellophan-Mann“, in dem Grant Towers eine kleine, etwas dickliche, graue Maus darstellt, durch die man hindurchschaut.
Ilse Klink mimt Mama Morton; sie besorgt Dir alles einschließlich persönlichen Schutzes und kümmert sich um Dich, wenn du Dich um sie kümmerst. Souverän und super und zurecht mit viel Begeisterung, Publikumsliebe und Applaus honoriert.
Samantha Peo als Gefängnisgenossin Velma Kelly hat Ideen, die Roxie vor Gericht benutzt. Unter anderem täuscht Roxie eine Schwangerschaft vor. „Warum bin ich nicht darauf gekommen?“ Auch muss sie ihren bereits festgelegten Gerichtstermin verzichten. Die Mörderin tut uns leid. Wem ist nicht schon einmal geistiges Eigentum abhanden gekommen? Wer hatte nicht schon einmal Ideen, die andere stahlen und erfolgreich umsetzten?
„Roxie Hart“ steht im Mittelpunkt der Geschichte. Sie nutzt ihren Ehemann aus und betrügt ihn. Etwas dümmlich lässt er sich auch vom Staranwalt wie Wachs modellieren. Er will sich scheiden lassen und dann doch nicht und freut sich jederzeit über ihr gemeinsames Kind, das gar nicht existiert. Die 5000 Dollar für den Anwalt – damals eine Riesensumme – rückt Herr Hart gern heraus – allein, er hat nicht alles. Gut gemacht, Carmen Pretorius.
Tourplan: CHICAGO in Berlin, Linz und München
Nach den Gastspielen im Musical Dome in Köln, in der Alten Oper in Frankfurt am Main und im Capitol-Theater Düsseldorf im Juni wird CHICAGO im Juli endlich in Berlin aufgeführt. Vom Mittwoch, den 3.7. bis Samstag, 13.7.2019 steht CHICAGO im Berliner Admiralspalast auf dem Plan.
Anschließend geht es vom 16. Juli bis 4. August in das Linzer Musiktheater und nach München ins Deutsche Theater vom 6.-11.8.2019.
Das Stück wird im englischen Original gegeben. Der gesamte Text ist auf deutsch auf zwei Lichterbändern mitlesbar. Deutlich zu sehen und gut übersetzt. –
Über eine andere „Chicago“-Inszenierung mit Basisinformationen über das Stück: