Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Kennen Sie die Geschichte von Herrn Kannitverstahn? Macht nichts. Mein Vater hat sie mir mehrfach erzählt, in größeren zeitlichen Abständen und mit Variationen, wie es sich für mündliche Überlieferung gehört. Das Nibelungenlied Mittelasiens, das Manas-Epos aus Kyrgystan, wurde Jahrhunderte und Jahrtausende nur mündlich überliefert, bis es vor (relativ) kurzer Zeit erstmals niedergeschrieben wurde. Herrn K. verschieben wir auf später. Hier geht es um einen neuen Stadtteil.
Die Berliner S-Bahn kommt ab und zu zu spät. Kann ja mal vorkommen, denkt der nachsichtige Beobachter. Der nachsichtige Fahrgast dachte das auch – vor ein paar Jahren. Inzwischen ist die Geduldsleine gerissen und man macht sich Luft.
Irgendwie hat man das Gefühl, die S-Bahn kriegt‘s nicht hin. Wobei: Dahinter steht die Bahn. Die Deutsche Bahn. Die ist inzwischen ein Unternehmen.
Unter den deutschen Tugenden wird die Pünktlichkeit genannt, sowohl von befragten Ausländern wie auch von Deutschen. Manchmal hat man das Gefühl, dass im Rahmen der Globalisierung auch diese verlorengeht.
Vielleicht sollte man die Schweizer bitten, in Zürich und Luzern, in Basel und Bern die Flagge der Pünktlichkeit hochzuhalten. Ein bisschen deutsch sind sie ja, zumindest sprachlich. Die Standarte Pünktlichkeit ist einfach zu schwer geworden und muss einmal kurz abgesetzt werden.
Berlin hat einen neuen Stadtteil?
Über die Größe Berlins wurde manches geschrieben. Gemeint ist hier die schiere Größe der Stadt Groß-Berlin (size) und nicht ihre greatness. Dadurch und durch die Zusammenlegung kleinerer Orte mit Berlin zu dem Groß-Berlin, das wir heute haben, wenn es auch fast niemand korrekt so nennt, gibt es von allem mehr. Mehr als in anderen – deutschen – Städten. Manchmal auch europäischen.
Mehr Brücken als in Venedig, hört man von Stadtführern. Manche sagen auch: mehr als im Hamburg. Mehr Straßen, mehr Straßennamen (sogar „Berliner Straßen“), mehr Rathäuser …
Mehr Stadtteile? Das wurde noch nicht verifiziert oder geprüft, soviel wir wissen. Doch schon bevor die Stadtteilzähler ihren Bleistift spitzen und die Möchtegern-Wikipedia-Autoren abstruse Vergleiche anstellen, sind ein oder zwei neue Stadtteile hinzugekommen. Berlin hat einen neuen Stadtteil? Das wüsste ich, werden manche denken – oder interessiert aufhorchen.
Vorm Flaneur Franz versteckt
Zumindest handelt es sich um einen neuen Stadtteil, den der Flaneur Franz Hessel noch nicht entdeckt hat. Neu muss er also sein, vielleicht auch neo.
Schwarz auf weiß hört man von ihm nicht oder wenig, wenn, dann in „der App“. Vielfahrer in Berlin und alle, die es aufgegeben haben, Parkplätze zu suchen, da diese immer seltener werden – 20% des Stickoxidausstoßes entfallen auf den Parksuchverkehr, erfuhren wir jüngst bei Maybrit Illner – meinen meist die App vom VBB; manche „Öffi“. Virtuell gibt es ihn also schon, einen neuen Stadtteil.
Nicht schwarz auf weiß, sondern Weiß auf Blau leuchtet er uns entgegen, der neue Ort. Auf manchem Bahnhof finden wir den Hinweis (und im Zug).
Die Berliner S-Bahn, zurzeit von der Deutschen Bahn verwaltet, steuert ähnlich wie die U-Bahn der BVG Orte an.
Die in London hilfreichen Hinweise „southbound train“ oder „northbound“ für Züge, die nach Süden respektive Norden fahren, gibt es in Berlin nicht. Man muss schon genau wissen, wo man hin will – und, wichtiger noch – wie der Ort heißt.
Wegen der kürzeren Distanzen zwischen zwei U-Bahnhöfen – im Vergleich mit der S-Bahn – heißen Stationen der Untergrundbahn oft nach Straßen, Plätzen oder Rathäusern. Bei der S-Bahn gibt es das auch (Osdorfer Straße, Yorckstraße, Rathaus Reinickendorf).
Häufiger sind allerdings S-Bahnhöfe mit Ortsnamen, die Viertel oder Bezirke benennen.
Außerhalb von Berlin fahren die S-Bahn-Züge auch Städte wie die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam oder mit der S46 Königs Wusterhausen an, das allen Unkenrufen zum Trotz mit seinen über 36.000 Einwohnern auch eine Stadt ist.
Manchmal kann man es lesen, meist jedoch hört man nur von dem einen neuen Stadtteil Ring.
Da heißt es zum Beispiel: „S41 nach Ring“.
Berlin hat einen neuen Stadtteil oder: Wo liegt Ring?
Ausländer, Touristen und fleißige Appbenutzer – manche scheinen sich aus praktischen Gründen das Handy schon an die Nase haben nähen lassen – suchen unverzüglich online nach diesem Ort. GPS wird eingeschaltet und die vier Buchstaben des kurzen Wortes werden geschwind eingetippt: R I N G.
Kein Ergebnis; außer vielleicht: Kaufen Sie „Ring“ bei Otto o.ä.
Nun ist Berlin ja bekanntlich aufgrund der schieren Anzahl seiner Stadtbezirke und Kieze darauf angewiesen, immer wieder neue Namen zu finden.
Ganz normale Wörter, die auf deutsch oder englisch eine Bedeutung haben wie „Mitte“ oder „Wedding“, werden hier zu Bezirken und Ortsteilen. Jetzt anscheinend auch „Ring“. Sogar die S-Bahn fährt schon dahin. Ganz so neu scheint der Berliner Ort doch nicht zu sein, doch wo befindet er sich?
Such, such.
Menschen scheinen dort auch zu wohnen, heißt es doch „innerhalb des Rings“ oder: „Wer außerhalb des Rings wohnt, braucht keine Umweltplakette“. Während der Ring der Nibelungen schon mal verballhornt wurde als „Ring, der nie gelungen“, sogar in Buchform, ist der Berliner Ring in den 1990er Jahren (wieder-) erbaut worden.
Doch einfach nur die Ringbahn, die historisch älter als die S- oder Stadtbahn ist, kann nicht gemeint sein.
Denn es heißt ja ausdrücklich nicht: „S41 Ringbahn“ oder „Ringbahn S42“.
Nein, es heißt „S41 nach Ring“. Genauso, wie es „S9 nach Spandau“ heißt. (Jetzt mal ohne die Diskussion, ob das eine Stadt sei.)
Ring oder den Ring muss es also geben wie den Wedding oder Mitte. Bitte.
Bei wem es noch nicht klingelt, der fahre einfach mal auf der Ringbahn und warte an einem Bahnhof, bis zwei Züge nacheinander „nach Ring“ fahren.
Da steht dann „Ring, Ring“ (zu deutsch: „klingeling“) und zumindest die Engländer, Kanadier und US-Amerikaner wachen dann auf.
Eigene Welt mit eigener Sprache
Auch die Berliner S-Bahn ist eine eigene Welt, so wie ihre Mutter Erde, die Deutsche Bahn. Die Deutsche Bahn, die alles kann. Sie spricht sogar eine eigene Sprache, wie sich das für Länder und andere Welten so gehört.
Berlin hat anscheinend einen neuen Stadtteil, einen ganz neuen. Doch: Wo liegt Zugfälltaus?
In der Nähe der Zugspitze? Oder doch weiter hinten?
Vielleicht liegt Zugfälltaus eher querfeldein.
Denn ein Zug fährt da einfach nicht hin. Obwohl die Bezeichnung immer wieder, sehr häufig sogar, im Zugzielanzeiger auftaucht.
Man sollte mal mit einem SUV hinfahren, einem Geländewagen. Viele haben ja auch Navi an Bord, da könnte man auch gleich versuchen, das Ring-Rätsel zu lösen. Da wird es dann wahrscheinlich nicht heißen:
„Bitte biegen Sie jetzt rechts ab!“, sondern eher: „Bitte fahren Sie jetzt im Kreis!“
Niki Lauda, der Rennfahrer und Organisator der Fluglinien Laudamotion und Niki Luftfahrt GmbH, hatte 1979 in Kanada die Worte ausgesprochen, die in die Geschichte eingingen:
„Ich will nicht mehr im Kreis fahren“.
Sich ewig im Kreis bewegen und nicht vorwärtskommen, ist ja auch eher eine Schreckensvorstellung.
Positiv betrachtet das Leben darstellend ist „Der ewige Kreis“ – ein Lied aus dem Musical „König der Löwen“ von Jocelyn B. Smith (The Circle of Life).
Der Pilot konzentrierte sich dann auf die Fliegerei und gründete im selben Jahr Lauda Air. Er war schon immer sehr schnell und wollte dann auch ein Ziel erreichen und nicht ewig im Kreis fahren. Niki Lauda kehrte 1982 wieder in die Formel 1 zurück, um seinem Unternehmen mehr Geld zu verschaffen. Auf dem Nürburgring hatte er 1976 einen schweren Unfall gehabt. Autos und Fliegen sind seine beiden großen Leidenschaften. Laudamotion begann als Autovermietung.
Wer weiß, würde Niki Lauda Züge managen, vielleicht hieße es dann seltener: Nächster Halt „Zugfälltaus“.
Aus dem Traum, dass Niki Lauda dafür sorgt, dass die Berliner S-Bahnen pünktlich fahren, wird wohl nichts mehr. Er starb am 20. Mai 2019, also diesen Jahres, in der Schweiz in Zürich. Ob damit die Hoffnung auf Pünktlichkeit in Berlin für immer begraben werden muss?