Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Manche Atheisten machen gern einen Bogen um den Kirchentag, doch sind die Menschen mit den orangen Tüchern im Berliner Stadtbild zurzeit unübersehbar. Die Schals sind keinesfalls die Eintrittskarte, sondern können für 4 Euro erworben werden. Auch der Eintritt für die meisten Veranstaltungen ist nicht frei. Gemessen an der großen Zahl von Veranstaltungen scheint die Dauereintrittskarte jedoch sehr preiswert, zudem vielerorts preiswert Getränke angeboten werden. Helfer werden verpflegt. Die enorme logistische Leistung bedeutet zum Beispiel, dass auf dem Messegelände unter dem Funkturm in Charlottenburg mehrere große Konzerte gleichzeitig stattfinden. So das Mitsingkonzert zum Luther-Pop-Oratorium in Halle 12, das sich überschneidet mit einer Gesangsdarbietung mit Band in Halle 8. Dieter Falks Oratorium war so beliebt, dass die ganze große Halle 12 gefüllt war. Obwohl oder weil man mitmachen sollte oder konnte. Durfte. In manchen Familien, die zahlreich vor Ort waren, ist ein Familienmitglied das Zugpferd in die Halle 12 am Großen Stern. Die anderen hören nur zu oder grummeln ein bisschen in den Bart. Männer in der Minderzahl. Manche sangen vielleicht leise, aber schon für den Nachbarn unhörbar mit. Die Noten wurden gestellt, manche Passagen vierstimmig, manche zweistimmig eingeübt nach Frauen und Männerstimmen getrennt.
Das Glücksgefühl des Mitsingens, ob nun durch Glauben unterstützt oder nicht, ist so groß, dass fast alle mit dem Herzen dabei sind und am Ende eine große Zahl lächelnder und glücklicher Gesichter zu sehen ist. Halle 8 dagegen, unterbrochen von Lesungen kurzer Texte zur Flüchtlings- und Migrationsproblematik unter anderem, halbleer.
Am Ende des Konzerts brandet großer Beifall auf. In der Halle, die nach der Zahl der Apostel benannt ist. Teilweise beklatscht man sich selbst, und das ganz legal und ohne irgendwelche ethischen Regeln zu verstoßen.
Am Ende, nachdem auf CDs und Liederbücher hingewiesen wurde, heißt es: „Geht mit Gott, aber geht!“ Die Menge zerstreut sich erstaunlich rasch und gesittet. Einige nehmen sich nun die Zeit in der benachbarten Rundhalle 13 vorbeizuschauen. Eine Sackgasse. Vorbeischauen kann man hier wie in einem Wendehammer, denn die Hallen 14 und 15 werden für das Publikum nicht benutzt, der Eingang Ost unterm dem Übergang zum ICC ist geschlossen.
Skulpturen und Gemälde
Gemälde und Skulpturen locken. Das Maiwetter mit seinem Sonnenschein durchflutet die vergleichsweise kleine Halle mit einem angenehmen Licht, dass durch aushängende orange Fahnen noch einen sonnenscheinähnlichere Färbung erhält. Das Licht kommt von oben.
So stellen sich viele auch die innere und äußere Leitung und Führung vor. Was zu tun ist und was nicht, dafür gibt es in einer Religion viele Vorschriften. Im Christentum landete man bei einem knappen Dutzend. Die Reihenfolge der zehn Gebote wurde dabei auch schon einmal verändert. Nach 500 Jahren Reformation wohl kaum anders zu erwarten.
Viele moralische Grundsätze teilt der Gläubige mit dem Atheisten. Die Unversehrtheit des Körpers anderer Menschen ist ein Grundsatz, den die meisten Europäer teilen, ob sie sich dabei nun auf die Verfassung oder die Gesetze berufen.
Trotzdem scheint die Kirche immer bemüht, nicht altbacken zu sein.
Subtil liegt im Trend
Gebote zu befolgen scheint heute eher einzuengen. Es passt als Verbot und in strikter Einhaltung wohl einfach nicht in die Zeit. Zuviele verschiedene Lebensweisen und Strömungen gibt es inzwischen. Offene Grenzen, Globalisierung und das Internet tragen das Ihre zu einem Leben außer Rand und Band bei.
Dabei einsteht bei manchen eher das Gefühl der Orientierungslosigkeit und sogar extreme christliche Richtungen erfahren in der modernen Zeit bisweilen einigen Zulauf.
Da passt es nur dazu, dass man Angebote macht.
Angebote
Die Energiewende, Mülltrennung, vegetarisches Essen – ja bitte, aber freiwillig. Die Grünen hat es unglaublich viel Stimmen gekostet, als jemand den Vorschlag machte, in Kantinen einen Veggie-Tag einzuführen. Dabei wäre niemand auf die Idee gekommen, irgendjemandem sein Wurstbrot zu verbieten oder den Besuch eines Restaurants in der Mittagspause. Trotzdem brach ein Sturm der Entrüstung los. Ein Angriff auf die Freiheit wurde erkannt. Die Mainstream-Medien heizten die hochgekochte Suppe noch auf.
Gemessen daran, dass vegetarische Ernährung die Welt retten kann, die Gesundheit verbessern und die Kohlendioxidemissionen radikal senken, war die Ablehnung enorm. Zudem nur eine Minderheit der deutsche Bevölkerung in Kantinen zu Mittag isst.
Der vernünftigte Vorschlag hat wohl keine Chance heute, wenn er nicht subtil genug daherkommt.
In Mitteleuropa allgemein Akzeptiertes ist als Gebot „Du sollst nicht töten!“ anscheinend zu aufdringlich.
Sinnvolle Themen
in Halle 13 gibt es „Angebote“. Diese werden in ihrer Anzahl nicht quantifiziert. Es sind 10.
Statt „Du sollst nicht stehlen!“ wird an die Fairness appelliert.
Statt „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut!“ liest sich das alte Neue ungefähr so: „Freu dich an dem, was der andere hat.“ (und mit ihm). Kein Grund für Neid.
Schön ist die künstlerische Umsetzung von Natascha Engst-Wrede aus Wittingen und Jürgen Eimecke aus Hankensbüttel in Norddeutschland. Wer die Möglichkeit hat, sich die großen Gemälde anzuschauen, sollte das tun.
Der frische Blick auf allgemein anerkannte Ethik befruchtet das Denken auch; bei manchem vielleicht sogar das Handeln. Skulpturen, die in ihrer Dreidimensionalität nun wirklich auf dem Bildschirm darzustellen sind, ergänzen das Erlebnis.
Weitere Angebote zu den Angeboten sind ein Karten- bzw. Gesellschaftsspiel und großformatige Postkarten.
Ein Kunsterlebnis in der Stille; zu einem sinnvollen Thema.
www.artifice.de
www.juergen-eimecke.de