Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). 72 Stunden haben ihren eigenen Reiz. Aller guten Dinge sind drei und 3 Tage à 24 h ergeben 72. Mit einem englischen Plakat wirbt Italien für seine Küche in Berlin. Originell: Von Donnerstag abend bis Sonntag abend gibt es an so vielen Berliner Orten, wie das Jahr Wochen hat, etwas für 7,- Euro (sic). Ja, Sie haben richtig gelesen, nur 7 Euro, und es handelt sich um beste Qualität, lauter italienische Spezialitäten – Gaumenfreude pur!
Man fragt sich nur, warum alles nur auf englisch geschrieben steht und wozu die Deutschen soviel italienisch gelernt haben? Ob das Collegium musicum, die Berliner Philharmoniker oder die Junge Deutsche Philharmonie – alle kulturbeflissenen Laien- und Profimusiker arbeiten, zumindest im klassischen Bereich, mit allegro, allegretto, forte und fortissimo. Carl Nielsen sprach dänisch und ist schon seit 1931 tot – trotzdem hatte weder die Junge deutsche Philharmonie, die ihn am Mittwoch abend im Konzerthaus aufführte, noch das Publikum Probleme, die Satzfolge „Allegro – poco allegretto – poco adagio quasi andante – Allegro“ zu verstehen.
Jeder sagt oder versteht „Ciao!“ und „Arrivederci“, Buona Sierra und Prego, vielleicht ein bisschen berlinerisch eingeschliffen, aber tutto capito. Und tutti kennen Pizza aus der Pizzeria, bloß beim Plural streiten sich die Pizze mit den Pizzen.
Wenn italienisch schon die Lingua franca der Musik ist, warum sollte genussbetonte Werbung für italienische Küche in Deutschland nicht wenigstens zweisprachig sein?
Für den Mund = bocca
Doch zurück zu den Köstlichkeiten, die man nicht mit dem Bocca della Verità – dem Mund der Wahrheit und schon gar nicht „bocca chiuso“ zu sich nehmen kann. Letzteres die Choranweisung für das Summen: „mit geschlossenem Munde“.
Wer gedankenlos auf englisch losplappert, sollte öfter mal „tenere la bocca chiusa“ – den Mund halten. Es sei denn, er will seine Muttersprache verlieren. Wörter werden nämlich schneller vergessen, als man denkt. Erst denken, dann sprechen.
Wirklich italienisches authentisches Essen
72 Stunden lang seit Donnerstag abend 19 Uhr – sorry: 7 p.m. – gibt es „True Italian authentic food“. True Italian ist immerhin ein Warenzeichen, registered Trademark, das kann man schlecht auf italienisch oder deutsch ausdrücken, „Nutella“, „Mercedes“ und „Volkswagen“ werden auch nicht übersetzt. Vielleicht hätte man besser als Beispiel Daimler-Benz wählen wollen, das Mercedes ein spanischer Mädchenname ist. Doch das Prinzip ist klar – „Tru Itäljän“ ist verziehen. Doch was gibt es eigentlich ab Sonntag abend? Ist das italienische Essen dann nicht mehr authentisch??
Ein konkretes Beispiel
Etwas unverständlich war die „Kampagne“, der Werbe-Feldzug dann doch, nicht nur wegen des Englischen, sondern auch weil Fragen offenblieben. Konnte in den teilnehmenden Restaurants an den 4 Tagen noch à la carte gegessen werden? Kosten alle Gerichte nun an diesen Tagen 7 Euro oder nur manche oder nur eines, oder ein Extrabraten, der für die Aktion extra gekocht wurde?
Jedes Restaurant (oder Café etc.) warb mit einem Gericht, der Sala da Mangiare in der Mainzer Straße 23 in 12053 Berlin mit „Pasta stuffed with buffalo ricotta and roasted almonds with safran sauce“ + Wein oder alkoholfreies Getränk = 7 Euro. Der feste Betrag gab jedem eine Richtschnur und den Gästen respektive Kunden Sicherheit. Sieben Euro ist genug für den Gastwirt, etwas zu verdienen an einem Gericht, das in größerer Zahl nachgefragt wird, auch wenn es aus Wirtes Sicht im ungünstigsten Fall dabei bliebe. 7 Euro ist aus Gastes Sicht ein Anreiz zu probieren, den Hintern hochzukriegen und neue Orte aufzusuchen.
72 Stunden sind kurz für Sala da Mangiare, Erste Sahne und 50 andere
Den Rest des Jahres möchte man auch satt werden und allein der Gedanke an die ganzen Lokale und Speisen lässt einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Angesichts der Liste der Teilnehmer ist bestimmt nicht jeder Besuchswunsch realisierbar und so bleibt auch morgen noch etwas zu tun, noch ein Ziel aufzusuchen.
Wenig hilfreich trotzdem die Angaben sämtlich in Fremdsprache. Nicht jede oder jeder in Berlin versteht das Englische – oder wollte man nur englischsprachige Touristen ansprechen?
Doch wohl eher weniger, denn Kasse über das Jahr hinweg machen die Berliner und Stammkunden. Die Werbeaktion hat bestimmt einiges gekostet, wäre das Übersetzen in Deutsche so teuer geworden? Sicher nicht.
„Mit Büffelricotta gefüllte Nudeln“ oder in Gottes Namen Pasta, dazu „Röstmandeln mit Safransauce“. Warum nicht? Verständlicher für viele allemal. Das „Good friends“ in der Kantstraße legt die Speisekarte in einer Handvoll Sprachen vor.
„Sala da Mangiare“ klingt vielleicht besser als Eßsaal oder Kantine, doch ist es genau das. Das Chinarestaurant „Shitang“ am Kurfürstendamm zwischen Joachim-Friedrich- und Nestorstraße meinte dasselbe (inzwischen geschlossen).
Das Italo-Restaurant ist übrigens weder in Friedrichshain noch in Wilmersdorf, sondern in Neukölln zwischen Flughafen- und Boddinstraße unweit des U-Bahnhofs. Auf der anderen Seite der Hermannstraße etwa 1 km entfernt im Schillerkiez das ebenfalls teilnehmende „Erste Sahne“.
Immer wieder: 72 Stunden
„72 Stunden – The Next Three Days“ heißt der Thriller von 2008, in dem Laras Chefin mit einem Feuerlöscher erschlagen wird. Beim Film hat der Countdown, das Ultimatum, einen immanenten Sinn: Es muss spannend bleiben.
Beim italienischen Essen, das mit Annelletti Siciliani, Baccala, Caponata, Culurgiones, Frisella, Pizza fritta i Pasta alla norma, Polpette di cinghiale und mehr eigentlich spannend genug ist, möchte man in Ruhe genießen, doch bietet der abgesteckte Zeitrahmen den Anreiz, viele Gourmettempel und Genussecken aufzusuchen, die man sonst nie im Leben gesehen hätte.
Da noch nicht einmal Taxifahrer alle Straßen dieser Stadt gesehen haben, eine sinnvolle Sache, die neue Erlebnisse und vielleicht Freundschaften verheißt.
Auch der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) wählte jahrelang mit Erfolg dieses Zeitfenster, um mit zig tausenden Teilnehmern eine gemeinnützige soziale, ökologische oder interkulturelle Aufgabe innerhalb von 6 Dutzend Stunden zu lösen.
Die Berliner 72-Stunden-Aktion ist ein Versuchsballon oder eine tolle Sache. Eine Kampagne, die sich jemand ausgedacht hat und im Sand versickert oder ein voller Erfolg. Das werden wohl die Berliner und ihre Gäste mit den Füßen entscheiden, mit denen sie abstimmen.
Die Deutschen sind gerade in Abstimmungslaune und die Zahl 3, die eine 4 ist, passt dazu. 72 Std. sind drei Tage, wenn sie um Mitternacht begännen und endeten; sie fangen aber Donnerstagabend an und enden Sonntag, mit Freitag und Samstag sind das vier Tage.
Deutschland wählte Jamaica bestehend aus drei Farben, doch mit CDU/CSU sind es vier Parteien.
Die Entscheidung für den Flughafen Tegel fiel am Sonntag, den 24. September. Die Entscheidung über „72 hrs“ – „The longest happy hour of the best Italian food in Berlin“ wird eine Woche später am Sonntagabend fallen – oder wenn die Stimmen in den Kassen ausgezählt sind.