Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Palazzo wird langsam erwachsen. Die Kinderkrankheiten sind ausgestanden, das Konzept ist geblieben. Jedes Jahr eine neue Show, beste Musik und ein exquisites Vier-Gang-Menü. Doch was nützte es, falls man nicht gerade auf dem Super-VIP-Logenplatz direkt vor der Bühne saß?
Viele Plätze im zweiten und dritten Ring waren ganz gut, doch die Pfeiler versperrten zu oft die Sicht auf die Künstler. Diese weigerten sich, im freien Sichtfeld eines bestimmten Zuschauers zu jonglieren, tanzen, singen und springen – sie bewegten sich ständig!
Sogar wenn sie sich dicht unter die Decke, pardon, unter das (Himmels-)Zelt schwangen, gerieten die Artisten manchmal außer Sicht. Oder sie erschienen wegen eines der vielen Pfeiler zweigeteilt wie die zersägte Jungfrau, die früher im Zirkus ein Klassiker war. Und das war schade, denn die Darbietungen waren wirklich exquisit.
Lauter Hingucker, auf dem Teller, der Bühne, in der Manege
Doch nun ist alles anders! 14 LKW brachten einen neuen, 15 Tonnen schweren Spiegelpalast, der mit 140 Lüstern ausgeleuchtet wird. Jetzt kann man praktisch von jedem Platz aus so gut wie alles sehen.
Palazzo war schon lange ein Erlebnis für Gaumen, Augen und Ohren; wenn man sich die Zeit nimmt, kann man es jetzt richtig genießen.
Wer zum Beispiel in Berlin-Tegel landet, setzt sich in den 109er Bus und lässt sich kohlendioxidfreundlich und entspannt kutschieren. So biegt man am Adenauerplatz auf den Kurfürstendamm ein und am Kranzlereck Richtung Zoo. Statt an der Haltestelle „Zoologischer Garten – Endhaltestelle“ auszusteigen, fährt man nach dem Motto „Sie können noch bis zur Betriebshaltestelle mitfahren“ bis zur allerletzten Station. Mit dem Bus X9 vom Flughafen Tegel (TXL) erzielt man ein ähnliches Ergebnis, sogar schneller, verpasst nur den einstimmenden Blick auf den Ku‘damm.
Am Ziel angekommen keine Spur von dem Matsch, den so manches Zirkuszelt umgibt. Auf breiten, mit dezent bunten Steinen gepflasterten und gut beleuchteten Wegen geht es vorbei an Pflanzungen. Am Eingang tritt man durch die eventuell bereits gewohnten Holztüren ein. Nicht durch einen Vorhang, wohlgemerkt.
Sofort ist man in der angenehm gut beheizten und gut schallgedämmten Palazzowelt.
Circus Flicflac erlaubte sich an derselben Stelle noch den Scherz mit einer Reihe von Türen von Dixitoiletten – natürlich in einem anderen Zelt. Das war eine Saison zuvor und ist Schnee von gestern, längst vergessen.
Palazzo hat hier alles verbessert, nicht nur sich selbst an allen Ecken und Enden, sondern auch das Umfeld.
Im „Spiegelpalast“ des Palazzo kann man sich so wohl fühlen wie in jeder anderen edlen Location. Im Foyer ein Getränk zu sich nehmen, Smalltalk pflegen und – sich willkommen geheißen fühlen. Oft begrüßen einen die Gastgeber Wodarz und Kleeberg persönlich. Einem schönen Abend, auch wenn man diesen nicht zu früh loben soll, steht nichts mehr im Wege. Außer – der größte Feind des Menschen ist der Mensch – man steht sich selbst oder dem Genuss im Wege.
Nach der Begrüßung interessiert die meisten das Menü
Wie bei der Show so steht auch im Programmheft eine herzliche Begrüßung am Anfang, dann steht das Menü im Fokus. Die Neugierde auf die Darbietungen können die meisten wohl im Zaume halten, nicht aber ihre Frage: „Was gibt es denn heute?“
Eine Antwort, ohne die es nicht geht: Vegetarisch oder nicht?
Auf den Seiten 6 und 7 wird das Vier-Gang-Menü dargestellt, in seiner klassischen und vegetarischen Variante, unter denen man rechtzeitig auswählen muss. Da diese Entscheidung weniger von der Speisekarte abhängt als von grundsätzlichen Überlegungen, konzentriere ich mich auf das Vegetarische.
Der Schnickschnack von ‚vegan‘ ist nichts für Kolja Kleeberg und wäre auch aus organisatorischen Gründen schwierig. Die einzelnen Gänge werden innerhalb von 10 Minuten serviert. Das bedeutet, dass beispielsweise alle 1,7 Sekunden eine Vorspeise die Küche verlässt. Mehr als zwei Menüs würden die Logistik sprengen. Eine Veganvorgabe zudem die Gestaltungsmöglichkeiten beim Menü stark eingrenzen und wohl auch nicht den Geschmack der Mehrheit treffen.
Beide Menüvarianten haben als 4. Gang ein identisches Dessert.
Die Speisekarte
„Vegetarisch“ beginnt mit Rote-Bete-Linsen mit Tamarindendressing, Wildkräutersalat und gepufftem Wildreis.
Wer sagt, das habe er schon einmal gegessen, dem glauben wir nicht.
Im Zwischengang gibt es ein Klare Tomaten-Consommé mit Basilikumsoufflé und weißen Bohnen. Schließlich will man ja auch ein kleines bisschen satt werden.
Der Hauptgang bietet einen Pilzstrudel mit Taleggio, violettem Senf und wildem Broccoli.
Zum Nachtisch darf man sich freuen auf eine Tarte von Dulce de Leche mit Gewürzmandarinen, dunklem Schokoladensorbet und Pistazienmacaron.
Die klassische Variante, die noch die Mehrheit bestellen dürfte, kombiniert das Tomatenconsommé mit Krustentieren, Garnelen und Meeressprossen-
Im Hauptgang gibt es Kalbsfilet im Steinpilzbrotmantel an Rotweinschalotten, Liebstöckelsalz und Panisse
Schau an, was für eine Show
Zu verantworten hat die Show Verena Schmidt. Die unprätentiöse kleine Frau kann definitiv leicht übersehen werden – was ihr nicht angemessen ist, vielleicht aber ihre Arbeit als „Artistic Director“ erleichtert. Sie meint von sich selbst, dass die drei Wörter ‚Neugierig‘, ‚strukturiert‘ und ‚ehrgeizig‘ sie am besten beschreiben. Die gute Art von ehrgeizig und die Strukturiertheit glauben wir ihr aufs Wort. Unstrukturiert könnte man so etwas Tolles nicht auf die Beine stellen. Und Neugier? Dieses Jahr ist so eine runde, erstklassige Show zustandegekommen, dass die Fähigkeit und der Wunsch, Neues zu entdecken zu wollen, wohl dazugehört.
Tänzerinnen und Humor
Der Abend besteht aus vielen Elementen, die Revuetänzerinnen Natalie Brooker und Chanelle Freeland gehören dazu. Freeland sagt, der bislang beste Moment ihres Lebens sei das Gefühl gewesen, nach mehrjährigen Reisen nach Hause zu kommen. Nach Hause, das ist für die beiden Australien. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass sie als Ort, den jeder einmal im Leben besucht haben sollte, Byron Bay angeben. Wegen der wunderschönen Strände und Berge. Cool wie Models blicken sie in die Kamera, etwas farblos und blass scheint es. Sie sind groß und schlank, fast hager. Um beurteilen zu können, was die beiden „drauf haben“, müssten sie länger am Stück auftreten.
Glanz & Gloria
Die neue Show heißt „Glanz und Gloria“, das wird ihnen auch zugeschrieben. Sie treten in edlen, handgefertigten Kostümen auf.
Bei der Vielzahl von Künstlern, die auftreten – während der Saison sind rund 80 Mitarbeiter und Künstler täglich auf den Beinen – haben es die Komiker und die Artisten leichter, die Aufmerksamkeit zu erheischen als die Tänzer.
Ein Clown braucht quasi nur die Zeit bis zur Pointe zu überbrücken und was die Artisten präsentieren, gehört meist in die Schublade „Wow“. Comedy Director ist Aitor Basauri aus Spanien; sein Vorbild ist Harpo Marx, der Entertainer.
Es schickt Miss Frisky ins Rennen, die durch den Abend führt und Zahir Circo, Comedians, die zaubern können. Tolle Männer.
Miss Frisky tut recht vulgär, kann aber so singen, dass man sie sofort ernst nimmt! Sie war erfolgreich an der Oxford-Universität und absolvierte die Royal Academy of Music mit Auszeichnung.
Mir persönlich gefiel der Gesang viel besser als ihre Rolle als Moderatorin mit rosa Perücke. Geschmackssache. Wenn gerade nicht Palazzo-Saison ist, tourt sie solo oder im Komikduo „Frisky & Mannish“ um die Welt.
Die Band ist bekannt
Die deutschkanadischen Lonely Hearts sind reumütig in den Palazzo-Schoß zurückgekehrt, schön.
Von den Showacts möchte ich so wenig wie möglich verraten, außer das sie sehenswerte, nie gesehene Kracher sind.
Wenn der Wecker nicht klingelt
Zahir Circo, das sind Kike Aguilera aus Barcelona und Luciano Martin aus Buenos Aires. Die Lingua Franca Spanisch ermöglicht ihre reibungslose Zusammenarbeit. Kike findet, das beste am Künsterleben sei, dass morgens kein Wecker klingelt. Er bedankt sich dafür bei der Welt, in dem er ihr Lachen schenkt.
Männer, die nicht sägen können
Zum Glück ist es ihnen noch nicht gelungen, sich zu zersägen. Entweder gelingt das nur Jungfrauen oder sie haben es einfach nicht drauf.
Schön, dass Zerstörungswut nicht immer zielführend ist.
Kikes unvergesslichster Auftritt war vor gut zehn Jahren in einem Flüchtlingslager in Namibia. Vor tauben und blinden Kindern.
Anschrift: Neue Adresse: Hertzallee am Bahnhof Zoo, 10787 Berlin
Viele Kudammbusse und/oder die Direktverbindungen 109/ X9 zum Flughafen Tegel.
Bus 46, 49, X34, X49, 110, 100 und 200. S-Bahnen der Stadtbahn und U2. Seit dem Brand in der Silvesternacht keine Regionalzüge.