Auf die Fresse oder Der Sound der 90er in Brandenburg – Annotation zum Buch „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz

"Wir waren wie Brüder" von Daniel Schulz. © Hanser Berlin

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Wer in den 90er Jahren als Jugendlicher nicht rechts war, hatte es in vielen ostdeutschen Kleinstädten schwer. Egal ob in Thüringen oder Brandenburg, auf jedem Hügel standen drei Nazis und suchten jemand zum Verprügeln. Meist fanden sie in ihren Nestern keinen, weil sich alternative Jugendliche nicht raus trauten und Migranten auch selten allein unterwegs waren. Also mussten sie in die großen Städte, um Andersdenkende zu finden, oder sie hauten sich untereinander die Birne weich.

Daniel Schulz hat einen saustarken Roman über die 90er Jahre in der Brandenburger Provinz geschrieben, der kein Blatt vor den Mund nimmt und den moralischen Niedergang der sogenannten neuen Bundesländer fein beschreibt.

Schulz über seine Hauptfigur: „Am Anfang des Romans ist er ein Idealist und Träumer, der immer auf der Seite des Guten stehen will und Ritter mag. Die DDR verkörpert für ihn dieses Gute, auf eine märchenlandhafte Art und Weise. Im Laufe des Buches entwickelt er sich zu einem Opportunisten, der so gut es geht durch seine Jugendzeit kommen möchte. Er ist von Gewalt fasziniert und fühlt sich zu vermeintlich stärkeren Männern hingezogen, zu solchen, von denen er glaubt, sie könnten ihn beschützen. Was er sich trotz dieses Opportunismus bewahrt, ist eine Widerständigkeit gegen rechtsextreme Überzeugungen.“

Das beschreibt das Credo des Buchs ganz gut. Vielleicht ist die implantierte Lovestory einen Tick zu dominant, doch die Beschreibungen der Glatzenwelt, das triste Abhängen auf dem Parkplatz, die gescheiterten Lebensentwürfe der Elterngeneration, lesen sich so sanft wie ein blutiges Steak. OK, das kann man nicht lesen, aber ihr wisst was ich meine?

Schulz schreibt mit Drive, man kann seinen Roman an einem langen Wochenendurlaub im Cottbusser Plattenbaugebiet wegschnurzen, mit Leichtigkeit senst er uns zurück in die 90er, als man als Punk in der Provinz nur im Dunkeln und mit Mundschutz unterwegs ein konnte.

Bibliographische Angaben

Daniel Schulz, Wir waren wie Brüder, 288 Seiten, fester Einband, Verlag: Hanser Berlin in Hanser-Literaturverlage, 1. Auflage, Berlin, 24.1.2022, ISBN: ‎978-3-446-27107-4, Preise: 23 EUR (Deutschland), 23,70 EUR (Österreich) auch als E-Buch erhältlich, ISBN 978-3-446-27368-9, 16,99 EUR

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