Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Es ist Krieg in der Ukraine, im Jemen, in Syrien, im Irak, in Palästina, in Nagornij Karabach und Mali. Tausende Soldaten sterben. Da weckte die Aufführung der »Geschichte vom Soldaten» von Igor Strawinsky (1882 – 1971) im Kammermusiksaal der Philharmonie Neugier. Zumal Nina Hoss als Sprecherin angekündigt war.
Der Zusammenhang des 1918 geschriebenen Werks, uraufgeführt in Lausanne, mit dem Heute scheint weit hergeholt. Denn das Erzähl-Stück, das Elemente des epischen Theaters mit dramatischen Passagen verbindet, hat seine eigene Entstehungsgeschichte.


Nach seinen Riesenerfolgen mit den Balletten »Der Feuervogel», »Petruschka» und «Le sacre du printemps» in Paris, die ihm zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Ruf eines Revolutionärs einbrachten, stand Strawinsky 1917/1918 künstlerisch und finanziell mit ziemlich leeren Händen da. Der Erste Weltkrieg hatte die Volkswirtschaften und die Staatshaushalte zerrüttet – schlechte Bedingungen für die Kunst. Zudem hatte Strawinsky durch die Nationalisierung von Grund und Boden während der Oktoberrevolution 1917 sein Vermögen und seine Privilegien verloren.

In seinem freiwillig-unfreiwilligen Exil in der Schweiz musste er irgendwie neu anfangen. Große Orchester und große Bühnen gewöhnt, fand er einen klugen, wenn nicht genialen Ausweg. Gemeinsam mit dem Dichter Charles Ferdinand Ramuz und dem Dirigenten Ernest Ansermet ersann er die »kleine» Form, eine Art Wanderbühne, die mit kleiner Besetzung durchs Land ziehen konnte. Sieben Musiker, ein Vorleser, zwei Schauspieler und eine Tänzerin produzierten sich mit einem parabelhaften Märchen – der »Geschichte vom Soldaten» (ursprünglich ein russisches Märchen).

Die Geschichte

Ein Soldat auf Urlaub wandert in sein Heimatdorf. Er begegnet dem Teufel, der ihm gegen (man würde heute sagen:) einen Leitfaden zum Reichwerden seine Geige und damit seine Seele abkauft. Ihm [dem Soldaten] gelingt es, Reichtum zu erlangen, doch das macht ihn nicht glücklich. Der Teufel gibt ihm seine Geige zurück, aber nicht seine Seele. Mit seinem Geigenspiel heilt der Soldat eine kranke Prinzessin, die seine Frau wird. Doch es zieht ihn nach Hause in sein Dorf. Als er nach drei Jahren dort ankommt, kennt ihn niemand mehr, seine Braut ist verheiratet und er «steht draußen». Am Ende folgt der Soldat dem Teufel in die Hölle, wo es mehr Wärme gibt als zwischen den Menschen (nach Logik darf man im Märchen nicht fragen).
Der Griff in die Vergangenheit scheint wie ein Ausweichen vor der Realität, doch die vom Krieg gebeutelten Zuschauer jener Zeit wussten, dass ein armer Teufel immer ein armer Teufel bleibt. Wenn das Märchen die Welt auch verklärt, dämmert der Gedanke, der Soldat möge lieber zu Hause bleiben und in Ruhe und Frieden alt werden.
Die Geschichte wird durchgängig gelesen, zum Teil rhythmisch deklamiert, aber Strawinsky durchflicht die Legende mit musikalischen Versatzstücken unterschiedlicher Herkunft, die sowohl die Geschichte selbst als auch die musikalischen Quellen (Märsche, Tänze, Choräle) herrlich parodieren. Ein avantgardistisches Glanzstück, in dem die Musiker ihr Können zeigen können.


Nina Hoss, bekannt für ihre Fähigkeit, anhaltend zu schweigen, las die Story spannend, bildhaft, knisternd. Die Hoss lächeln zu sehen, bewies ihr Vergnügen an der Rolle. Noah Bendix-Balgley, Erster Konzertmeister, weckte mit seiner Violine des Veroneser Meisters Carlo Bergonzi die lieblichsten und schauerlichsten Klänge zu der wundersamen Geschichte. Der Wunsch, die Geschichte szenisch zu sehen, als Mischung von Parodie und Rührstück, bleibt nicht aus, doch die Darbietung »trocken» war musikalisch und gestisch ein Genuss an sich.
Der Geschichte vom Soldaten vorangestellt war das Kammermusikstück »Catch and Release» (Fangen und Freilassen) des Composers in Residence, Esa-Pekka Salonen, das Werk dirigiert von Stanley Dodd. Geschaffen im Schatten Strawinskys (im Schatten eines Freundes, sagt Salonen), bot das Stück ein Feuerwerk musikantisch verfremdeter »Schnipsel» aus verschiedenen Quellen – zum Vergnügen des begeisterten Publikums.

Das Geheimnis der Identitäten

Als Saisonschwerpunkt hatten sich die Berliner Philharmoniker »Identitäten» gewählt. »Der Blick auf uns selbst» sei in Bewegung geraten, auch würden »unsere Ideale als Gesellschaft…mit beispielloser Dringlichkeit» diskutiert, sagt das Programmheft. Also stelle sich die Frage: »Wer bin ich, wer will ich sein?»
Bei Strawinsky und Salonen Identität suchen zu wollen, wäre müßig. Die Künstler waren oder sind Originale, wenn nicht Genies. Soweit sie sich und ihre Musik verändern, wäre es treffender benannt mit »geprägte Form, die lebend sich entwickelt». Noch fragwürdiger wird der Anspruch, den Beitrag der Musik »zu dieser Debatte» feststellen zu wollen, zum Beispiel im Philharmonischen Diskurs, der Identitäten zu den Themen »Utopie», »Geschlecht», »Glaube» sucht. Dort wurden unlängst zum Thema »Glaube und Werte» zwei Persönlichkeiten vorgestellt: Seyran Ates, Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Imamin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, und Anna-Nicole Heinrich, Vorsitzende der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Die Frage nach der Identifizierung mit ihrem Glauben wurde nur pro forma gestellt. Ihr Wille zur Veränderung in ihrem religiösen Einflussbereich überzeugte. Die Entschlossenheit zum Wandel zu einem progressiven Islam, in dem Frauen und Männer gemeinsam beten, ist für Seyran Ates sogar lebensgefährlich. Zu erleben war eine spannende Diskussion, aber das Wort Musik fiel nicht ein einziges Mal. Die Mitwirkung von Stipendiaten der Herbert-von-Karajan-Akademie wurde ganz eingestellt. Für den Deutschlandfunk mag der »Diskurs» ein praktisches Forum sein. Als Beitrag zur Selbstverständigung des Orchesters ist der Philharmonische Diskurs nicht zu erkennen.

Dessen unbesehen: Die Konzerte Kirill Petrenkos sind Publikumsmagneten geworden. Die Abende philharmonischer Kammermusik ihrerseits sind erlesene Delikatessen. Oh doch, der Kammermusiksaal war sehr gut gefüllt.

Anmerkung:

Eine gekürzte Fassung erschien am 22. März 2023 in der Zeitung „junge Welt“.

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