Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Wer am 19. Januar, dem 1. Messetag der Internationalen Grünen Woche (IGW), ins Tagesprogramm schaute, durfte die Augen aufreißen: Ein litauischer „Ameisenhaufen“ war angekündigt. Mit Verköstigung für jedermann von 11.50 bis 15 Uhr am Litauenstand.
Lebende Tiere auf der Grünen Woche
Nun gibt es ja so manche Tiere auf der IGW. In Halle 3.2 den Erlebnisbauernhof mit Rindviechern (böse Zungen behaupten, die seien manchmal auch in anderen Hallen zu finden). Die holländischen Hummeln in Halle 18. Und dann natürlich Halle 25, die Tierhalle.
Insekten essen?
Ameisen sind nahrhaft, unter anderem für Ameisenbären. Wie war das mit den Aborigines? Aber in Europa, als litauische Spezialität? Auf einer der größten Messen Mitteleuropas in einem G7-Staat?
Im Rahmen einer Pressekonferenz im Vorfeld untersuchte ein Wissenschaftler der TU München, was denn am „Allheilmittel“ Insektennahrung dran sei. Er entzauberte viele Mythen. Aber er ging eher auf Heuschrecken ein und dass bei den Forschungen nicht die fliegende Art gezüchtet wird. Aus Sicherheitsgründen.
Kaum die Rede von den staatenbildenden Insekten, die in Alphabetbüchern für Kindern gern das ABC einleiten.
Noch ein ganz bisschen weiter hinten im Alphabet als die Heuschrecken stehen die Hummeln, doch die werden in Holland und den ganzen Niederlanden zur Bestäubung der Pflanzen eingesetzt, um Tomaten und ähnliches Obst und Gemüse zu produzieren. Ein Nutztier, dass man zum Fressen gern hat, aber nicht isst. Zur Freude der Veganer.
Eine litauische Spezialität
Chinesen essen alles, sagt man. Doch welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Haufen Ameisen aus dem Baltikum? Weiß man sich zwischen Wilna und Kaunas, zwischen Klaipeda (Memel) und russischer Grenze nicht anders zu helfen, als die Ameisen zu verspeisen? Wird man der Ameisen sonst nicht Herr, die haufenweise herumliegen?
Der Ameisenhaufen
Wir müssen den Ameisenhaufen wohl auflösen, beziehungsweise das Rätsel dahinter.
Ameisenhaufen heißt auf litauisch „skruzdelynas“. Es ist auch der Name einer süßen Köstlichkeit, ein Teil des kulinarischen Erbes des kleinen Ostseeanrainers. Dort werden nicht etwa Ameisen gebraten und gezuckert, sondern verschiedenste Gebäckwaren kunstvoll aufgetürmt. Diese werden dann mit Mohn bestreut und Honig überzogen (also doch Bärennahrung!). Der riesige Haufen für alle, die früh genug auf der Messe und in Halle 8 waren, wurde vom Landwirtschaftsministerium präsentiert.
Rund zwei Meter hoch wurde das Naschwerk und wog „um die 200“ Kilogramm. Es wurde erst auf der Messe dekoriert, aus feierlichem Anlass. Danach wurde verköstigt.
Das Schlemmerereignis war bis 15 Uhr eingeplant. Um 15.30 entstand das Photo. Erst zwischen halb vier und vier war tabula rasa: der große, flache, quadratische Tisch mit den hochstehenden Kanten war geleert. Spektakulär! Spektakulärer als Spekulatius, spekulieren wir.
100 Jahre Litauen
Ein Jahrhundert ist es erst her, dass Litauen gegründet wurde. Deswegen in diesem Jahr eine zünftige Hundertjahrfeier. Die Unabhängigkeit wurde am 16. Februar 1918 erklärt und am 11. März 1990, Gorbatschow sei Dank, nach einer langen, leidvollen Geschichte wiedererlangt.
Heute ist Litauen mit 65.300 Quadratkilometern 25mal so groß wie Luxemburg (genauer 25,25 mal so groß).
Die Stadt Berlin (oder das Land), in der die Grüne Woche stattfindet, hat eineinviertel mal so viele Einwohner (3,575 Millionen). Es gibt also etwa 2,8 Millionen Litauer.
Die Ameise
Das kleine erstaunliche Tierchen, über dessen Kopf hinweg wir Menschen und Menschchen bestimmen wollen, ob es gegessen wird oder nicht, bildet Staaten wie die Bienen. Die Bienen, von denen Einstein das Überleben der Menschen abhängig macht, sind vielleicht noch einen Tick erstaunlicher.
Beide sind jedenfalls ein guter Grund, so manchen Kanister Glyphosat verschlossen zu lassen. Denn wenn es den Bienen an den Kragen geht, ist der Ofen aus.
Manche Schreiberlinge sprachen im Zusammenhang mit den Chinesen in der Volksrepublik China, besonders unter Mao Zedong, von den „blauen Ameisen“. Die einer Uniform gleichende blaue Standardkleidung und die Emsigkeit der chinesischen Arbeiter, die Berge versetzten, führte zu dieser Wortwahl.
Schweizerdeutscher Reichtum: Ameisen zum Anbeißen und Ambeisse
Statt Menschen nach Tieren zu benennen, nennen die Deutschschweizer Tiere nach, ja wonach eigentlich? Manchmal, so scheint es jedenfalls nach Tieren.
Unter dem Motto „Grüezi Berlin“ gibt es am Stand der Schweiz in Halle 17 Postkarten, auf denen ein Geständnis steht.
„Wir verstehen uns manchmal untereinander selbst nicht“.
Das liegt an den Dialekten.
Manch deutschsprechender Schweizer findet Ameisen zum Anbeißen; das läßt zumindest die Vokabel „Ambeisse“ vermuten. Man schriebe „Ambeiße“, hätte man denn das „ß“. Doch die Schweizer sind reich und nett.
Die Schweizer sind reich und nett
Reich genug, um auf einen Buchstaben zu verzichten. Nett, weil so die Sprecher der drei anderen Hauptsprachen der Confoederation Helvetica entlastet werden. Sie kennen nur das s und Doppel-s. Man konzentriert sich innerschweizerisch auf das Erlernen wichtiger inländischer Fremdsprachen und erreicht so Mehrsprachigkeit und Einheit in der Eidgenossenschaft.
„Ham“ sagt man schon mal innerfamiliär, wenn man zubeißen will. „Hambeissi“ ist nicht denglisch für „Schinken ess ich“. Es ist wie „Ambeesse“ und „Umbeisse“ in anderen Kantonen oder Dörfern ein Ameisenwort.
„Aaweissi“ auch; es bedeutet nicht: „Ah, das weiß ich!“
„Embesse“ ist auch nicht pidgin für Botschaft (embassy), sondern – Sie wissen schon.
„Uuwaisse“ keine Berliner Weiße, „Èmèès“ kein Mais und nicht der Plural von EM (effektive Mikroorganismen). „Umpeisse“ sagt man mancherorts, „Bumbessli“ erinnert an Bumblebee, die Hummel. In „Immesse“ könnte man die Imme hören, in „Äbes“ schwäbisch.
„Oomeisele“ enthält eine Meise, „Bääramsle“ Bär und Amsel, „Wurmöisli“ – ja, genau.
Mit „Ampeissele“ und „Aambeissig“ sind wir wieder am Anfang angelangt. Wenn die Schweizer sparen, dann nicht am Wortschatz.
Die „Stecknadel“ und die „Tüte“ bringen es übrigens nur auf ein Dutzend Wortvarianten, der „Hahn“ erstaunlicherweise nur auf 10. Die wichtige „Katze“ immerhin auf 14 Wörter neben dem Hochdeutschen.
Bei der Ameis‘ wimmelt es geradezu von Varianten (anderthalb Dutzend).
Wie man um den Ameisenhaufen“ herumkommt
Die ganze Grüne Woche ist ein „Ameisenhaufen“. Ganz besonders voll ist es am Samstag und auch der Freitag ist gut besucht. Die Menschen, die den Ameisen größenmäßig am nächsten kommen, Kinder unter sechs Jahren, haben an allen Tagen freien Eintritt.
Doch wann sollte man sich aufschwingen, wenn man Gewusel und Gewimmel nicht mag?
Ein Sonderangebot der Messe Berlin lässt aufhorchen: Das Sonntagsticket. Es ist im doppelten Sinne günstig: Es kostet nur 10 Euro, für Schüler und Studenten 5, und sonntags ist es leerer! Wirklich, man sollte es kaum glauben.
Auf den Leitmessen ITB und Frankfurter Buchmesse gab und gibt es Fachbesuchertage. Die Allgemeinheit darf erst am Wochenende hinein oder ab Freitag. Dadurch ist es Samstag und Sonntag dort besonders voll. Denn ähnlich wie am Kudamm die normale Fahrspur auch von Taxis und Bussen benutzt werden darf ist Fachbesuchern am Wochenende der Besuch natürlich nicht verboten.
Bei der Internationalen Grünen Woche ist das etwas anders.
Auswärtige nutzen am liebsten den Freitag (bekanntlich der stärkste Reisetag bei der Deutschen Bahn) und den Samstag für einen Besuch. Der Sonntag dient als Reisetag, zur Erholung und Vorbereitung auf die Arbeitswoche; Gläubige brauchen auch noch Zeit für den Gottesdienst. Um diesem Ungleichgewicht entgegenzusteuern, führte die Grüne Woche die Sonntagseintrittskarte ein. Auch die Schulklassen kommen eben zwischen Montag und Freitag.
Wer Geld – und Zeit beim Messerundgang – sparen möchte, sollte also am besten auf den letzten Tag der Woche setzen.
weitere Berichterstattung über die diesjährige Grüne Woche:
https://www.gruenewoche.de/