Ein »Urknall» und der Islamistische Terror – Zur Dokumentation über den Aufstand in Mekka 1979

Mekka während des Haddsch. Quelle: Pixabay

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Am Morgen des 20. November 1979 stürmten mehrere Hundert bewaffnete Männer unter Führung von Dschuhaiman Ibn Seif al-Utaibi, einem ehemaligen Korporal der saudischen Nationalgarde, die Große Moschee in Mekka. Damit begann eine zweiwöchige Besetzung der heiligen Stätte, bei der etwa 1000 Menschen starben. Das saudi-arabische Königshaus konnte die Ordnung erst mit Hilfe der GIGN, einer Spezialeinheit der französischen Gendarmerie, wiederherstellen. Heute gilt die lange Zeit totgeschwiegene Geiselnahme von 100 000 Gläubigen vielen als Geburtsstunde des Terrorismus.

Fünf Jahre recherchierte der Filmautor Dirk van den Berg für den ARTE-Dokumentarfilm »Mekka 1979 – Urknall des Terrors?» und sprach exklusiv mit Beteiligten und Zeugen des dramatischen Ereignisses. Er erlangte Zugang zu Dokumenten und Filmmaterial, die das Zusammenspiel der historischen, politischen und religiösen Faktoren des Aufstands beleuchten.

Van den Berg kam entgegen, dass auch Oberstleutnant Abdulaziz AL-Dhari, der Sohn des damaligen Kommandierenden Generals der königlichen Armee, in seinem Privatarchiv Dokumente sammelte, darunter ein direkt nach der Niederschlagung des Aufstands aufgenommenes Interview mit dem General. Auch Al-Dhabi wartete auf eine Gelegenheit, die Vorgänge von 1979 an die Öffentlichkeit bringen zu können. Nicht weniger wichtig war, dass van den Berg endlich an ein Dokument gelangte, das ein streng gehütetes französisches Staatsgeheimnis barg, nämlich den Einsatz der Spezialeinheit GIGN, die laut Gesetz nur im Inneren Frankreichs operieren darf. Hinzu kamen Interviews mit dem langjährigen Geheimdienstchef Saudi-Arabiens, mit führenden Politikern und Geistlichen, mit französischen und US-Diplomaten, mit Mitkämpfern der Aufständischen und mit Wissenschaftlern und Journalisten.

Mit einem bloßen Terrorakt wäre die Besetzung der Großen Moschee falsch beschrieben. Es handelte sich um einen bewaffneten Aufstand, hauptsächlich getragen von Beduinen, Stämmen, die seit jeher die Okkupation der Macht durch die Dynastie der Saud und deren Anspruch, Hüter des Islam zu sein, als Unrecht ablehnten und die den Sturz des Königshauses erzwingen wollten. Ihr Ziel war nicht etwa die Errichtung einer Republik, sondern eines von »Allah» legitimierten Islamischen Staates, der auch an den Grenzen Saudi-Arabiens nicht halt machte. Geplant war nicht die Ermordung von Pilgern. Die Festsetzung von mehreren Zehntausend Geiseln war ein Trumpf, aber auch eine gewaltige Belastung. Sozial gesehen kamen die Kämpfer aus ärmeren Schichten, darunter Nomaden, die ihre Freiheit bedroht sahen. Außer dem Sturz des Königs und der Errichtung des Gottesstaates hatten sie weitere Forderungen, die im Film aber nicht erläutert werden. Die Besetzung der Moschee in Mekka, durch welche laut Film täglich 1.5 Milliarden Gläubige ziehen, wählten die Aufständischen als Symbol, weil eben der König das Zentrum des Islam und die Religion als seinen Besitz betrachtete. Dirk van den Berg rekonstruiert mittels der Aussagen der Zeitzeugen die Niederschlagung des Aufstands. Ein Hindernis daran war das im Koran vorgeschriebene Verbot, im Umfeld der Moschee Waffen zu gebrauchen. Der Rat der Geistlichen, die Ulama, genehmigte den Tabubruch. Auch der französische Präsident, Valery Gisgard d´Estaing, brach das Gesetz, indem er den Einsatz von Gendarmen und die Lieferung von Tränengas erlaubte, um die in den Kellergewölben verbarrikadierten Kämpfer ausräuchern zu können. Frankreich wurde dafür mit großen Rüstungsaufträgen reich belohnt.

Unklar bleibt, woher die Aufständischen die Mittel für Trainingslager, Waffen, Munition, Verpflegung und so weiter hatten. Fast beiläufig wird im Film erwähnt, dass sich Saudi-Arabien an der Seite der USA im Konflikt mit der islamischen Revolution im Iran befand. Die Interessenlage an einem Erfolg des Aufstands scheint klar, wird im Film jedoch ausgeblendet.

Die Folge des Aufstands war eine dem Königshaus willkommene Gelegenheit zur Restauration in Gesellschaft, Politik und Kultur. Sie wurde auch genutzt, um militante Islamisten nach Afghanistan, Pakistan und in andere Krisenherde »wegzuloben». Ein vom Autor des Films prognostizierter Reformkurs des Königreichs wird von Fakten nicht gestützt. Die Ankündigung von Kronprinz Mohammed bin Salmon im vergangenen Jahr, zu einem moderaten Islam zurückkehren zu wollen, bedeutet keinen Wandel in der aggressiven Außen- und Militärpolitik des Landes. Die Saudis leugnen die Unterstützung des islamischen Terrors. Vielleicht rechnen sie Staatsterror (zum Beispiel den Krieg im Jemen) nicht dazu. Wenn das Königshaus Hüter des Islam sein will, könnte sich seine Macht auch auf einen Islamischen Staat erstrecken.

Der Film, der nach dem »Urknall» in Mekka 1979 ja auch weitere Terrorakte suggeriert, wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet.

Ist der »Urknall» wirklich ursächlich für den anhaltenden Terror, von Al Kaida, des Islamischen Staates, in Tschetschenien und so weiter? Nicht die Besiegten, sondern die Sieger hätten die Macht dazu. Besteht ein Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001, von Barcelona, Paris, Brüssel, Nizza und so weiter?

Oder: Welche innenpolitische Machtstruktur, sprich Klassenlage der Bourgeoisie, der Geistlichkeit und anderer Schichten hatte Einfluss auf die Entstehung und die Niederschlagung des Aufstands? Wer stand loyal zum Königshaus und wer nicht? Ging es nur um Religionsfragen oder auch um ökonomische Interessen?

Wenn Terror die Qualität eines Urknalls haben kann, wo ordnet sich das Attentat von Sarajewo im Jahre 1914 ein? Am Ende profitieren die Großmächte und nicht die Attentäter an der »Basis».
Van den Berg wählt eine Form der Recherche, die die Zeugen reden lässt, ohne ihnen »auf die Hühneraugen zu treten», das heißt, ihnen unangenehme Fragen zu stellen. Dabei kommt viel Wahrheit zutage, auch ihre Denkweise, aber ist taktische Zurückhaltung nicht auch eine Art von Schere im Kopf?

Das Grundproblem ist ein anderes. Bei der Analyse des Aufstands und seiner Niederschlagung schildert van den Berg die Situation der Beduinen sowie die politischen und religiösen Gründe ihres Widerstands gegen Ideologie und Politik des Königshauses. So wird verständlich, warum sie überhaupt revoltiert haben. Bei der Erörterung des Aufstands und seiner Niederschlagung kommen jedoch überwiegend die Sieger zu Wort und nur zwei Mitkämpfer, die aber nicht die politischen Ziele des Widerstands erklären. So entsteht gewollt oder ungewollt der Eindruck, dass der Aufstand falsch und seine Niederschlagung notwendig war. Die Geschichte wird vom Standpunkt der Sieger erzählt. Man könnte sie aber auch als Tragödie der Rebellen darstellen. So wäre nach ihren Schwachpunkten und ihren Fehlern zu fragen, zum Beispiel, dass der Aufstand nicht von einer Massenbewegung, sondern von einer extremen Gruppierung mit restaurativen Vorstellungen getragen wurde. Die Aufständischen hatten keine Verbündeten in der Armee und in der Arbeiterklasse, so unterentwickelt die auch gewesen sein mag. Wie aus allen erfolglosen Revolten und Revolutionen wäre daraus zu lernen. Um die Motive der Aufständischen und die Gründe ihrer Niederlage verstehen zu können, wäre wissenswert, ob die Gefangenen vor ihrer Hinrichtung verhört wurden und ob es davon Protokolle gibt.

Absicht der Autoren war es sicherlich nicht, die Festigung der Macht der Saudis nachträglich zu legitimieren, aber die Tücke steckt eben darin, dass die Sieger im Film überzeugender auftreten als die wenigen überlebenden Regimegegner.

Dessen ungeachtet: Der Zuschauer lernt viel. Für viele waren das bisher böhmische Dörfer. Wer es sich aussuchen kann, schaue sich die Fassung der ARD am 27. August an. Sie ist um 23 Minuten länger und bietet mehr Fakten.

Mekka 1979 – Urknall des Terrors?

Dokumentarfilm von Dirk van den Berg, ARTE FRANCE / NDR, Frankreich 2018, Erstausstrahlung, auf ARTE am 21.August, 22.10 Uhr, 52 Minuten, im ERSTEN am 27. August, 22.45, 75 Minuten

Anmerkung:

Dieser Beitrag von Sigurd Schulze basiert auf einen Beitrag, der am 21.8.2018 im WELTEXPRESS erstveröffentlicht wurde.

Anzeige

Vorheriger ArtikelGroße Sängerinnen und Sänger aus Georgien – Gala-Abend „Belcanto Georgia“ im Großen Saal in der Berliner Philharmonie
Nächster ArtikelOttmar Hörl bespielt Eltville – eine Installation zu Ehren Gutenbergs